Hinweis

Für dieses multimediale Reportage-Format nutzen wir neben Texten und Fotos auch Audios und Videos. Daher sollten die Lautsprecher des Systems eingeschaltet sein.

Mit dem Mausrad oder den Pfeiltasten auf der Tastatur wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Durch Wischen wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Los geht's

Sinti in Hameln Die Familie Weiß

Logo https://dewezet.pageflow.io/sinti-in-hameln-die-familie-weiss

Familie Weiß - Sinti in Hameln

Familie Weiß ist in Hameln ein Begriff. Fast jeder hat von ihr gehört. Fast jeder hat eine Meinung über sie. Häufig ist sie negativ – selbst wenn es keinerlei Berührungspunkte mit der Sinti-Familie gibt. In der Serie „Familie Weiß – Sinti in Hameln“ beleuchtet die Dewezet Geschichte und Gegenwart der Hamelner Sinti, stellt Vorurteile auf den Prüfstand und lässt die Angehörigen dieser anerkannten nationalen Minderheit selbst zu Wort kommen.

Zum Anfang
Zum Anfang

Zur Geschichte der Sinti

Woher die Sinti stammen und wie sie nach Deutschland kamen

Vollbild
Der Ursprung von Sinti und Roma liegt im Norden Indiens. Von dort aus zogen sie vor rund 1000 Jahren über Persien, Kleinasien, Armenien, Griechenland und den Balkan nach Europa und Amerika. Es war die Not, resultierend aus Krieg, Verfolgung oder wirtschaftlichem Elend, die sie immer wieder zu Ortswechseln zwang.
Der erste Vermerk über die Anwesenheit von Roma, genannt „Tataren“, in Deutschland befindet sich in den „Hildesheimer Stadtrechnungen“ aus dem Jahr 1407. Für viele Sinti gilt dieses Datum als Ausgangspunkt ihrer jahrhundertelangen Geschichte in Deutschland, der ihnen auch zur Identifikation mit ihrem Heimatland dient. Im 15. Jahrhundert wurden Sinti zu „Vogelfreien“, also Rechtlosen, erklärt. Dadurch waren sie abermals gezwungen, öfter ihren Aufenthaltsort zu wechseln.
Mit Verbesserung ihrer Rechtslage wurden Sinti bis Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend sesshaft. Doch die Vorurteile, der Antiziganismus, bestand fort. Er gipfelte in dem Völkermord der Nazis, dem rund 500 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen. Heute leben etwa zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa, davon etwa 80 000 bis 120 000, überwiegend deutsche Sinti, in Deutschland. In Hameln wohnen schätzungsweise 150 deutsche Sinti.
Schließen
Zum Anfang

Vollbild
Porajmos bezeichnet den Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma. Es ist ein Wort aus ihrer Sprache, dem Romanes, und wird eher im nichtdeutschen Sprachraum verwendet. Es bedeutet „das Verschlingen“ und ist die offizielle Bezeichnung für das Naziverbrechen.

Den meisten Hamelner Sinti ist „Porajmos“ indes kein Begriff. Sie sprechen von der „Hitler-Zeit“, in der sie selbst oder ihre Angehörigen zu Opfern der Nazis wurden. Zunächst wurden die deutschen Sinti und Roma von dem NS-Regime als „Fremdrasse“ stigmatisiert.

Es folgten ihre bürokratische Erfassung, Berufsverbote sowie „Zigeunerlager“ genannte Zwangslager, wie etwa der bereits 1936 eingerichtete „Zigeunerrastplatz Marzahn“ in Berlin. Die gutachterlichen Stellungnahmen von Rassehygienikern wie Eva Justin waren für die meisten Sinti „gleichbedeutend mit einem Todesurteil“, wie die Ethnologin Katrin Reemstma schreibt („Sinti und Roma“; 1996).

1938 wurde die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ gebildet. Im selben Jahr wurden viele Sinti im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in weitere KZ verschleppt. Im Mai 1940 wurden auf Anordnung Heinrich Himmlers etwa 2800 Sinti aus Hamburg – darunter auch Hugo Steinbach, Bluma Weiß sowie andere spätere Hamelner –, und aus anderen Teilen Nord- sowie Westdeutschlands in das polnische Konzentrationslager Belzec und von dort in andere Lager verschleppt. Dort mussten sie schwere Zwangsarbeit verrichten, waren unterversorgt und Gewaltexzessen der SS ausgeliefert.

Gemeinsam mit den Juden standen Sinti und Roma in der Häftlingshierarchie der SS an unterster Stelle, wie die Historikerin Karola Fings schreibt („Sinti und Roma“; 2016). „Zynischerweise wurden viele der Musiker, denen in Freiheit die Arbeit verboten worden war, in den Lagern in die Häftlingsorchester gezwungen, um bei Appellen und beim Ein- und Ausmarsch der Gefangenen aufzuspielen“, so Fings. Männer, Frauen und Kinder waren „folterähnlichen, medizinischen Menschenversuchen“ ausgesetzt. Viele wurden zwangssterilisiert.

Die genaue Anzahl der ermordeten Sinti und Roma lässt sich nicht beziffern. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 500 000 als „Zigeuner“ verfolgte Menschen den Nazi-Verbrechen in Europa zum Opfer gefallen sind, davon etwa 20 000 aus Deutschland.

1956 verwehrte der Bundesgerichtshof den Sinti eine Entschädigung weitgehend – mit der Begründung, die Verfolgung sei wegen ihrer „Neigung zu Kriminalität“ bis 1943 rechtens gewesen.

Erst 1982 wurde der Völkermord an den Sinti von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt.

Schließen
Zum Anfang

Stereotype und Abweisung bestehen fort

Philomena Franz
Philomena Franz
Vollbild
In den 1950er und -60er Jahren herrschte vielerorts eine abweisende Haltung den Sinti gegenüber vor, auch in Hameln. „In fast allen Städten und Gemeinden wurde ohne einen Hauch von Schuldbewusstsein, aber mit enormer Aggressivität gegenüber den Überlebenden die ganze Bandbreite antiziganistischer Stereotype öffentlich vorgebracht“, schreibt die Historikerin Karola Fings in ihrem Buch „Sinti und Roma“ (2016). Verwaltungsbeamte und Polizisten, die schon vor 1945 die Verfolgung organisiert hatten, setzten nun alles daran, „ihre Gemeinde weiterhin ,zigeunerfrei‘ zu halten“. In Hameln waren etwa Stadtrat Dr. Hans Krüger und Vermessungsrat Gerhard Reiche mit der Sinti-Familie Weiß betraut. In der Nazizeit hatte sich Krüger um die Bearbeitung der „Judensachen“ gekümmert, Reiche um die Einweisung der Juden in die sogenannten „Judenhäuser“. Die Kölner Auschwitz-Überlebende Sinteza Philomena Franz bezeichnete die Nachkriegszeit in ihrem Buch „Zwischen Liebe und Hass“ noch als relativ unbeschwert. „Niemand habe gefragt: Bist du Zigeuner?“ Doch nach der Währungsreform „entstanden wieder die besonderen Formen der Macht in der Gesellschaft und damit wuchs die Diskriminierung“.
Philomena Franz
Philomena Franz
Schließen
Zum Anfang

Sinti oder Roma? - So steht es um die Namensfrage

Vollbild
In der Wissenschaft stellen Sinti – wie die Kalderasch, Lowara und etliche andere – eine von vielen Untergruppen der Roma dar. So hält es auch der „Zentralrat der Sinti und Roma“, die größte Interessenvertretung von Sinti und Roma in Deutschland. Einige Sinti lehnen den Oberbegriff „Roma“ jedoch ab. Zwar hätten Sinti und Roma vielleicht einen gemeinsamen Ursprung. Allerdings hätten sich deutsche Sinti und Roma aus Ost- und Südosteuropa inzwischen kulturell und sprachlich soweit voneinander entfernt, dass die Unterschiede größer seien als die Gemeinsamkeiten, so die Argumentation. Die in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts überlieferte Selbstbezeichnung lautet Sinti. Beheimatet sind Sinti auch in Polen, den Niederlanden, in Belgien, Norditalien und, dort „Manouches“ genannt, in Frankreich. Der Begriff „Zigeuner“ hingegen ist eine rassistisch geprägte Fremdbezeichnung, die von vielen Sinti abgelehnt wird. Sinti und Roma sind in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt. Das heißt: Sie sind deutsche Staatsangehörige, die sich von der Mehrheitsbevölkerung durch eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte unterscheiden. Die Anerkennung als Minderheit bedeutet für sie einen staatlichen Schutz
Schließen
Zum Anfang

Die ersten Jahre in Hameln

Es ist der 25. Februar 1954, als Heinrich Weiß mit seiner Frau Berta nach Hameln kommt. Sein Grundstück in Nordhausen hat er nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen müssen. Weiß ist anerkannter Ostflüchtling. Es ist eine Rückkehr. Über 40 Jahre zuvor war er in Hameln als Soldat stationiert gewesen. Von 1910 bis 1912 diente er im deutschen Heer des Kaiserreichs. „Da war er stolz drauf“, sagt Schwiegertochter Bluma Weiß (88) über den vielleicht ersten Sinto in Hameln.


Zum Anfang
Heinrich Weiß ist 62 Jahre alt, als er 1954 in Hameln ankommt. Zu sechst bezieht die Familie mit vier hölzernen Wohnwagen zunächst den Platz Am Frettholz (heute: Tönebönplatz) in der Südstadt. Nicht als Zwischenstation. Sie wollen bleiben.
Zum Anfang
Doch die Sinti-Familie stößt bei der Stadt auf wenig Gegenliebe. Die hätte es am liebsten, wenn die Sinti gar nicht erst nach Hameln gekommen wären. Zum einen ist der Wohnraum in Hameln knapp. Die Weserstadt steht, wie viele andere Städte in der Nachkriegszeit auch, vor der Herausforderung, Tausende Flüchtlinge unterzubringen. Zum anderen sitzen die Vorurteile gegenüber „Zigeunern“, wie die Sinti damals noch von der Mehrheitsgesellschaft genannt werden, nach wie vor tief.
Zum Anfang
In den ersten Jahren ist die Familie Weiß gezwungen, von einem Platz auf den anderen zu ziehen. An der ersten Station, am Frettholz, darf sie nicht bleiben. Das Ordnungsamt weist ihr einen Platz an der „Löhner Eisenbahn“ in der Nähe des Reherkamps zu.
Zum Anfang
Nach Beschwerden von Anwohnern und endlosen Diskussionen mit der Stadt zieht Heinrich Weiß mit seiner Familie im Oktober an die Ohrsche Landstraße, pachtet ein zwischen der alten Ohrschen Landstraße und der Bundesstraße 83 gelegenes Grundstück. Die Weiß, durch Kinder und nachgezogene Verwandtschaft zu einer Sippe von 20 Personen angewachsen, rücken von dem Privatgrundstück auf das angrenzende städtische Gelände. Offensichtlich hat die Stadtverwaltung nicht nur ein Problem damit, dass die Sinti mit ihren Wohnwagen in Hameln irgendwelche Plätze beziehen, sondern dass sie überhaupt in der Stadt sind.
Zum Anfang
Heinrich Weiß erhebt beim Landesverwaltungsgericht Hannover Klage gegen die Stadt Hameln. Das Gericht schlägt der Stadt vor, „den Streit dadurch zu bereinigen, dass der Sippe Weiß ein Platz angewiesen wird“. Die Stadt erklärt jedoch, über keine freien Grundstücke zu verfügen. Auch Verhandlungen mit Privateigentümern würden scheitern, sobald von "Zigeunern" die Rede sei. Die Sinti bleiben zunächst an der Ohrschen Landstraße.
Zum Anfang
Zwei Jahre lang geht es hin und her zwischen Stadt, der Sippe Weiß und Landesverwaltungsgericht, städtische Verfügungen und Einsprüche gegen dieselben wechseln einander ab. Die Stadt wirft den Sinti vor, auf Kosten der Allgemeinheit leben zu wollen. Sie seien schmutzig, verrichteten ihre Notdurft im Freien, zögen den Ärger von Anwohnern auf sich und belästigten Passanten. Ihre Lebensweise locke Ungeziefer an, die das Lager zu einem „Seuchenherd“ mache. Die Stadt will, dass die Sinti entweder weiterziehen oder ihre Wohnwagen aufgeben. Doch die Wohnwagen sind ihr Zuhause, mit dem sie in der warmen Jahreszeit ihren Geschäften nachgehen. Außerdem will die Sippe zusammenbleiben.
Zum Anfang
Anfang 1957 entscheidet der Rat schließlich, einen offiziellen Stellplatz für die Wohnwagen der Sinti anzulegen, samt Stromanschluss, Wasserversorgung und Plumpsklos. Um die 10 000 Mark kostet der Platz, der formal nicht nur Sinti, sondern allen Reisenden zur Verfügung stehen soll.


Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Die Sache hat nur einen Haken: Der Platz befindet sich direkt neben der Kläranlage an der Fischbecker Landstraße. Die Sippe weigert sich, den Platz zu beziehen. In der Konsequenz wird der Platz an der Ohrschen Landstraße im Mai ’57 zwangsgeräumt, die Sippe an die Fischbecker Landstraße umgesiedelt.

Video öffnen

Zum Anfang
Zum Anfang
In der Folge beginnt für die Sinti abermals ein Hin und Her: zwischen Kläranlage, Frettholz und dem selbstgewählten Platz am Rettigs Grund, neben dem Militärgelände der Briten, in der Nordstadt. Hugo Steinbach (86), ein Schwiegersohn von Heinrich Weiß, erinnert sich: „An der Kläranlage hat es immer gestunken“, sagt er. „Ich hatte gerade ein Mädchen bekommen, es war erst wenige Wochen alt. Ihr ganzes Gesicht war voller dicker Fliegen, den blauen. Also habe ich ein Dreirad genommen, habe unseren Wohnwagen angespannt und bin zum Rettigs Grund umgezogen."
Zum Anfang
Die Stadt drängt darauf, dass die Familie zur Kläranlage zurückkehrt. Doch die Weiß’ weigern sich. Am 10. April 1958 richtet sich Heinrich Weiß deshalb mit einem Brief hilfesuchend an Bundeskanzler Adenauer. Er bittet um einen „geeigneten, gesunden Platz“ oder „eine Baracke“, da „unsere Wohnwagen zum Teil nicht mehr als solche benutzt werden können“ und sie langfristig sowieso auf feste Unterkünfte angewiesen sein würden. Eine Antwort erhält Weiß von Theanolte Bähnisch, der Regierungspräsidentin in Hannover. Sie teilt mit, die Angelegenheit an die Stadt Hameln zurückgegeben zu haben.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Kurz vor Weihnachten 1958 kommt man bei der Stadtverwaltung zu dem Schluss, die Sinti am Rettigs Grund fortan zumindest zu dulden.

Video öffnen

Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Zum Anfang
„Die Unterkünfte sind kleine Schmuckstücke, das Interieur mit viel Geschmack und Phantasie zusammengestellt, aber die Baracken sind in einem jämmerlichen Zustand“, schreibt die Hannoversche Presse. Während der Jahre am Rettigs Grund verfallen die Wohnwagen, ein gutes Dutzend, zusehends, leiden die selbst gebauten Baracken unter der Feuchtigkeit. Mögliche Reparaturen, eine Wasserleitung und Toiletten sind zwar im Gespräch, werden aber nur teilweise umgesetzt.
Zum Anfang
Im März 1962 klagt der britische Platzkommandant über den Zustand des Sinti-Lagers. Doch mangels alternativer Plätze und weil man sich mit dem Lager im Rettigs Grund inzwischen weitgehend arrangiert hat, hält die Stadt die Briten hin.
Ein Jahr später folgt ein Ultimatum: Im Sommer '63 erklärt der britische Major Lambert, dass die Sinti unter keinen Umständen länger im Rettigs Grund bleiben können, weil das Gelände für eigene Zwecke benötigt werde.
Zum Anfang
Unterdessen ist der nunmehr 72-jährige Heinrich Weiß, Vater von zehn Kindern, schwer erkrankt. Im Sommer 1963 liegt er im Sterben. Am 5. September wird er auf dem Friedhof Wehl beerdigt. Mehrere Hundert Sinti aus ganz Deutschland erscheinen zur Trauerfeier.
Zum Anfang
Zum Anfang
Im Überblick: Das waren die Stationen der Familie Weiß in der Zeit zwischen 1954 und 1964.
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Aus dem Zeitungsarchiv

Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Leser erinnern sich

Auf den folgenden Seiten lassen wir Menschen zu Wort kommen, die sich an das Zusammenleben mit den Sinti erinnern.
Zum Anfang
Aus Mitgefühl machte sich Joachim von Kauffmanns mit etwa 17 Jahren auf den Weg zu den Sinti am Rettigs Grund. Durch eine Freundin war er Zeuge geworden, wie sich Stadtdirektor Wagner abfällig über „die Zigeuner“ äußerte. „Da wollte ich ihnen etwas Gutes tun“, sagt der heute 76-Jährige. Also besorgte er ein paar Zigarren, ging zum Rettigs Grund und verschenkte sie an die Sinti.

Zum Anfang
Magdalena von Weyhe (86) vom Fischerhof bekam wegen der räumlichen Nähe viel von den Sinti am Rettigs Grund mit. „Auf dem Weg zu unseren Feldern kamen wir dort immer vorbei“, erzählt sie. „Mein Vater sprach dann mit den Männern, und da kamen dann alle Kinder angelaufen und umringten ihn.“ Umgekehrt kamen die Kinder auf dem Weg zur Schule am Fischerhof vorbei und fragten von Weyhe nach der Uhrzeit.

Zum Anfang
Als junger Mann lieferte Postbote Hans-Joachim Krakowski (73) den Sinti am Rettigs Grund das Geld vom Amt aus. Noch heute schwärmt er von der Innenausstattung des Wohnwagens von Sippensprecher Heinrich Weiß, den Teppichen, dem geräumigen Wohnzimmer. „Wenn ich kam, hat der Zigeunerbaron einmal gepfiffen“, erzählt er. „Dann stellten sich alle in einer Reihe auf, und er verteilte das Geld.“
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Von Vorurteilen und Feindbildern

Die Vorurteile gegenüber Sinti sitzen tief. Wie ein roter Faden ziehen sie sich durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Negative wie positive. Von der Musik, die „den Zigeunern im Blut“ liege, über „den Wanderzigeuner“ bis zu dem wohl am meisten verbreiteten Klischee von „den Zigeunern“, die die Wäsche von der Leine oder gar Kinder klauen. Durch Presse, Literatur, Filme und Musik werden Stereotype über Sinti reproduziert und in den Köpfen verankert. Die Vorurteile scheinen sich hartnäckig zu halten. In Hameln vor allem gegenüber der Familie Weiß.

Zum Anfang
Die Weiß’, heißt es oft, seien kriminell, gewalttätig, zögen einen über den Tisch. So weit – so falsch. Zum einen gibt es „die“ Familie Weiß nicht. Zum anderen handelt es sich dabei um typische Vorurteile gegenüber allen Sinti. Genauso wie es sie gegenüber „den“ Juden oder „den“ Muslimen gibt. Aber es gibt nur einzelne Angehörige der Familie, der Sippe Weiß. Für eine negative Erfahrung mit einer Einzelperson, dürfen andere, schon allein juristisch, nicht in Sippenhaft genommen werden. Doch genau das macht ein Vorurteil aus. Aus Einzelerfahrungen oder auch nur Gerüchten werden pauschalisierende Urteile. Vorurteile.
Zum Anfang

Vollbild
Bei Vorurteilen, schreibt der Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz, handele es sich eben nicht um einen Reflex der Mehrheit auf Charaktereigenschaften oder Handlungen der jeweiligen Minderheit, „sondern um die Konstruktion eines Feindbildes, das mit der Realität wenig oder nichts zu tun hat. Die Mehrheit hat bestimmte Interessen, Ängste, Wünsche und Abneigungen, die auf ,die Juden‘ oder ,die Muslime‘ oder beliebige andere Gruppen wie Sinti und Roma projiziert werden“. Der Sinn bestehe darin, durch Ausgrenzung der Minderheit das Gemeinschaftsgefühl der Mehrheit zu stärken. „Das ist am schwierigsten zu verstehen, dass nicht die Opfer der Ausgrenzung schuld an ihrem Schicksal sind, dass nicht ,der Jude‘ oder ,der Sinto‘ schuld ist, wenn man ihn nicht mag, dass vielmehr die Gesellschaft Interesse daran hat, ihn nicht zu mögen“, so Benz.
Schließen
Zum Anfang
Ein Blick zurück in die Geschichte verdeutlicht, dass die Familie in Hameln von Anfang an Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt war. Die Stadt selbst hatte es den Weiß’ von dem Zeitpunkt ihrer Ankunft 1954 an nicht leicht gemacht. Aber auch von der Zivilbevölkerung erfuhren sie von Anfang an Ablehnung.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Dieter Kamißek am Rettigs Grund. Dort hatten die Sinti von 1958 bis 1964 ihr Wohnwagenlager.

Video öffnen

Zum Anfang
1957, als Familie Weiß noch in Wohnwagen an der Ohrschen Landstraße lebte, wollten deutsche Eltern die Einschulung von drei Sinti-Kindern an der Schule in Wangelist verhindern. Die Vorstellung, ihre Kinder, müssten sich mit Sinti die Schulbank teilen, gefiel ihnen nicht. In diesem Fall erhielten die Sinti sogar Rückendeckung im Rat. Wie die Dewezet damals berichtete, sagte Senator Dr. Lothar Ganser (CDU) in einer Sitzung: „Die vergangenen Jahre hätten uns doch eine nachdrückliche Lehre erteilt, dass niemand wegen seiner rassischen oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt werden dürfe, und es sei bedenklich, so etwas überhaupt zu diskutieren.“
Zum Anfang
Gut 30 Jahre später hatte ein Kind der Familie Weiß an der Grundschule Wangelist trotzdem wieder mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu kämpfen. „Ich war in der Schule immer viel allein“, erinnert sich Andreas Weiß (36). "Die anderen Kinder nannten mich 'Schwarzkohl', 'Zigeuner' oder 'Schnitzelfresser'.“ Sein einziger Freund in der Schule war ein Junge, der ebenfalls schwarze Haare hatte. Ein Kurde.  Irgendwann warf der Junge seine Schulsachen zuhause in den Holzkohleofen. Er besuchte die Schule bis zur vierten Klasse.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Zum Anfang
An einem weiteren Beispiel wird deutlich, dass allein die Ankündigung der Anwesenheit von Sinti ausreichte, um auf Ablehnung zu stoßen. 1963, als die Stadt einen Ausweichort für den nur schmerzlich geduldeten Wohnwagenplatz der Sinti am Rettigs Grund suchte und ein Gelände des britischen Militärs am Düth in Erwägung zog, folgte der Widerstand der Anwohner auf dem Fuße. Sie reichten bei der Stadt eine Liste mit 52 Unterschriften von Haushalten in Rohrsen ein, mit der sie gegen die angedachte Ansiedlung der Familie Weiß am Düth protestierten.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Wenn Sinti früher „auf Geschäft fuhren“, also mit Wohnwagen ihrem Reisegewerbe nachgingen, stießen sie mitunter auf blanken Hass, der sich teilweise sogar in Gewalt entlud. Karl Felscher, der ehemalige Pastor der Sinti-Missionsgemeinde in Wehrbergen wurde auf Fahrten, die er in den 80er Jahren mit Angehörigen der Familie Weiß war Zeuge solcher Angriffe.

Video öffnen

Zum Anfang
Wie soll Rückhalt in der Bevölkerung für Sinti entstehen, wenn sogar die Behörden und die Staatsgewalt offen und offensiv gegen Sinti vorgehen? So hielt etwa das Bundeskriminalamt (BKA) bis in das Jahr 2001 an der Sondererfassung von Sinti und Roma fest. Damit knüpfte es an „ältere deutsche Polizeitraditionen“ an, „deren radikalste Form die mörderische ,Zigeunerbekämpfung‘ der Nationalsozialisten gebildet hatte“, erklärt Andrej Stephan, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Zeitgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Zum Anfang
„Bei uns gibt es, so wie bei allen anderen, auch schlechte Menschen“, sagt der Hamelner Sinto Horst Rosenberg von der „Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma“. „Bei uns ist es nur so, dass, wenn einer kriminell ist, alle über einen Kamm geschert werden.“ Prozentual gesehen würden deutsche Sinti nicht häufiger kriminell als Deutsche. Das bestätigt auch der Hallenser Forscher Andrej Stephan. Bei der Polizei nehmen Sinti  „keine Sonderstellung“ ein, wie Jens Kozik, Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, auf Anfrage mitteilt. Sie stünden weder „im besonderen Fokus der Polizei“ noch unterlägen sie einer „speziellen Beobachtung“.
Zum Anfang
Kaum ein Erwachsener der Familie Weiß, der nicht darüber klagt, keine Wohnung zu finden. Spätestens, wenn die Vermieter mitbekämen, dass sie Sinti seien, sei die Wohnung „plötzlich nicht mehr zu haben“, wie Reilo Weiß sagt. Oftmals reiche schon der Name Weiß aus, um am Telefon eine Absage zu bekommen. Einige Sinti verschleiern deshalb ihre Identität. Ein Sinto, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, gibt sich Deutschen gegenüber vorzugsweise als Inder aus: „Wegen der Vorurteile.“
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Neben der Wohnungssuche bereitet auch die Arbeitssuche Probleme.

Video öffnen

Zum Anfang
Die Vorurteile bekommen Kinder der Familie Weiß schon in der Schule zu spüren. „Wir haben keinen guten Ruf“, sagt eine junge Sintezza, die unerkannt bleiben möchte, „aber dann lernen sie mich kennen und merken, ich bin gar nicht so, wie sie dachten.“
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Erinnerungen an die Nazi-Zeit

72 Jahre nach dem Nationalsozialismus sind die Verbrechen der Nazis in den Erinnerungen vieler Sinti noch sehr präsent. Die Kinder und Jugendlichen von heute kennen die im Dritten Reich erlittenen Leidensgeschichten ihrer Urgroßeltern, entweder aus deren eigener Erzählung oder durch Überlieferung. In Gesprächen mit der Dewezet haben Hamelner Sinti Erlebnisse, Erinnerungen und Überlieferungen aus der Nazizeit geteilt.
Zum Anfang

Bluma Weiß im Interview

Diese Aufnahme von Bluma Weiß entstand im Juni 1964 bei einem Besuch der Dewezet im Wohnwagenlager der Familie Weiß im Rettigs Grund. Nur wenige Wochen zuvor hatte Bluma Weiß zu ihrem Glauben gefunden. Foto: Archiv
Diese Aufnahme von Bluma Weiß entstand im Juni 1964 bei einem Besuch der Dewezet im Wohnwagenlager der Familie Weiß im Rettigs Grund. Nur wenige Wochen zuvor hatte Bluma Weiß zu ihrem Glauben gefunden. Foto: Archiv
Vollbild
Bis heute fällt es der 88-jährigen Sintezza schwer, über die Nazizeit zu sprechen. Dem Interview mit der Dewezet stimmt die überzeugte Christin nur unter der Bedingung zu, dass ihr Pastor, Falk Münzing vom Freien Evangelischen Zentrum, bei dem Gespräch mit dabei ist. Es ist das erste Mal, dass Bluma Weiß ihre Verfolgungsgeschichte mit der Öffentlichkeit teilt.

Frau Weiß, Sie sind ursprünglich aus Hamburg, richtig?

Bluma Weiß: Ja. Wir haben in Hamburg-Harburg gewohnt, im Wohnwagen auf einem großen Platz. Meine Eltern, meine zwei Brüder, meine Schwester und ich. Wir Sinti waren da eine große Gruppe.

Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Hamburg?
Ja, an die Schulzeit. Den Namen vergesse ich nicht: Heinemann hieß der. Ein Lehrer. Der hat uns verprügelt nach allen Regeln der Kunst.

War das eine Schulklasse mit Deutschen zusammen?
Nein. Das war eine Klasse extra für uns Sinti. Wir waren alle in einer Klasse, Kleine und Große.

Aber der Lehrer war ein Deutscher?
Der Heinemann, ja. Der hat mich mal mit so einem Rohrstock geschlagen, das war ein richtiger Knüppel. Und da habe ich was am Auge abgekriegt, knallrot und dick war das. Als meine Mutter das sah, ist sie zu ihm gegangen. Der wäre fast aus dem Fenster gesprungen. (lacht) Sie hat ihm gesagt: „So schlagen Sie mein Kind nicht noch einmal!“ Bei einem anderen wäre sie vielleicht gleich weggekommen. Danach sind wir ja auch weggekommen.

Und das ganz plötzlich?
Ja. Das war 1940, auf diesem großen Platz. Da standen überall Wachtposten mit Gewehren, damit keiner abhaut, rings um den ganzen Platz hast du nur Köpfe gesehen. „Raus, raus, raus, alles raus!“, riefen die.

Raus aus Ihren Wohnwagen?
Ja, alle mussten raus. Und da sind wir denn mit dem, was wir anhatten raus, und alles andere blieb stehen.

Wie haben Ihre Eltern oder die anderen Erwachsenen reagiert?
Na ja. Die waren ängstlich ... Die wussten vor lauter Panik überhaupt nicht mehr, was sie machen sollten. Dann sind wir in die Waggons gekommen und dann ab nach Polen … Nee, ist nicht so einfach alles gewesen, aber jetzt ist es vorbei. Aber wenn Sie nicht aufpassen, glauben Sie mir, dann kommt wieder was. Da sind so viele heute, wo du hundertprozentig weißt, das sind sie. Und das wird nicht mehr so lange dauern. Vielleicht erlebe ich es nicht mehr, aber die Kinder.

Wie ging es damals weiter?
Wir sind in so ein Sammellager gekommen. Da sind alle auseinandergerissen und auf Lager verteilt worden. Wir waren in Starachowice, Warschau, Krychow, Bergen-Belsen, Siedlce … Zuerst waren wir in Belzec.

Was haben Sie in den Lagern erlebt?
Ich war so zehn Jahre alt, als ich in so ein Sägewerk kam. Da war auch ein Onkel von mir, der hat ein bisschen auf uns aufgepasst. Wir mussten ja mit diesen langen Brettern und Balken arbeiten. Ich habe mit einem Judenjungen zusammengearbeitet. Zu viert haben wir Kinder diese kleinen Waggons schieben müssen. Und in Polen war es ja sehr kalt, und wir hatten ja nix an den Füßen, und dann auf den Gleisen… Das war so furchtbar. Und wenn du nicht so gekonnt hast, na ja, dann gab’s was. Manche sind gleich nach Auschwitz gekommen. Da sind ja meist die Kinder gleich weggewesen. Die sind eingesammelt worden – und ab in’ Ofen. Bei uns waren die Kinder noch, aber die sind vor Hunger und Durst gestorben. Meine Geschwister sind erschossen worden. Die waren schon größer.

Was ist mit Ihren Geschwistern passiert?
Na ja, meine Geschwister… die waren schon… (Stimme bricht) Drei sind erschossen worden, zwei auf einmal, Berta und Emil. Mein ältester Bruder, Julius, war so 19. Der war im Krankenhaus, also haben sie gesagt. Typhus hatte er. Na, jedenfalls, den haben sie dann auch erschossen. Das war in Siedlce.

Haben Sie das alles gesehen?
Nein. Aber wir haben alles mitgekriegt in dem kleinen Ghetto, wo wir waren, in Siedlce. (Atmet schwer) Da haben wir auf so einer Mauer gestanden, und die haben da so gelegen. Die Mutter, die eine – das vergess‘ ich mein Leben nicht –, die hat ihre zwei Kinder so umschlungen gehabt. Und alle drei wurden erschossen. Da mussten noch welche zusehen. Je mehr sie gequält haben, desto besser war es für die.

Mit „die“ meinen Sie die SS-Leute?
Ja. Na, jedenfalls als Kind ist das schon schwer gewesen, aber für die Eltern war es noch schwerer. Wie meine Mutter gehört hat, dass die Kinder gestorben sind, also erschossen … (atmet tief ein) Die hat nur da gesessen und ihren Kopf gegen die Wand geschlagen. Sie wollte nicht mehr leben. Aber wir waren ja auch noch da. Ich und meine Stiefschwester, die war noch klein. Sie ist inzwischen auch gestorben.

Haben Ihre Eltern die KZs überlebt?
Meine Mutter ja. Mein Vater nicht. Der ist mit Emil und Berta erschossen worden. Alle drei. Aber da waren noch mehr. Da war meine Tante mit sieben Kindern, die alle erschossen worden sind, die ganze Familie. Von meinem Vater die Schwester mit einem, die sind auch weg, in eins so erschossen worden. Ich war ja noch sehr jung, das haben die Älteren auch viel vor uns versteckt gehalten, dass wir das nicht so mitkriegen. Es ist eine Zeit gewesen, an die man gar nicht mehr erinnert werden will, denn da kommt das alles wieder so richtig hoch. Und obwohl wir deutsche Zigeuner sind, muss ich ehrlich sagen: Ich hab sie gehasst.

Wen haben Sie gehasst?
(leise) Die Deutschen.

Verständlich.
Für mich jetzt nicht mehr. Aber wir kannten den Herrn Jesus ja auch noch nicht. Gegen Kinder oder alte Leute, wo man gemerkt hat, dass sie gut waren, waren wir ja auch nicht. Aber wir haben es ja immer wieder erlebt. Und es gibt ja auch heute noch einige, bei denen man das merkt, dass die so für Rassenverfolgung sind. Ich merk das sofort. Aber wie ich dann Christin (freikirchliche; Anm. d. Red.) wurde – ich war vorher streng katholisch –, musste ich zu jedem hingehen und mit denen sprechen, was ich vorher überhaupt nicht machen wollte. Ist das nicht sonderbar? Wenn man einen Menschen erst hasst und auf einmal so lieben kann? Jesus hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.

Haben Sie mit Ihren Kindern über die Zeit in den Lagern gesprochen?
Wir haben mal von gesprochen, aber die Kinder, die kennen das gar nicht so. Die wissen vieles. Aber von mir… Ich hätte da gar nicht groß reden können, weil, wenn man die Geschwister… Und man stellt sich das so vor. Nee. Da kannst du ja nicht reden, also ich jedenfalls nicht. Und deshalb kann ich auch vor meinen Kindern nicht sprechen. Nicht mal von meinen Eltern.

Schließlich wurden Sie befreit.
Ja, aber wie genau, kann ich gar nicht mehr sagen. Das Lager war irgendwie voll, und die konnten nicht mehr alle „abmähen“ sozusagen. Die sind dann reingekommen, und wir sind irgendwie stiften gegangen und (lacht) wieder nach Deutschland hin. Erst waren wir in den Wäldern in Polen. Weil die haben ja sogar noch die Letzten, die da geflohen sind, verfolgt. Wenn die den Nazis in die Hände fielen, dann wurden sie erschossen, abgeschlachtet praktisch. Gleichzeitig waren wir in Polen selbst plötzlich „Nazis“ – weil wir ja die deutsche Staatsangehörigkeit haben, Juden und Zigeuner. (lacht) Ich war nur noch Haut und Knochen. Das sieht man ja heute manchmal im Fernsehen. Genau so war das. Deshalb seh ich mir das nicht mehr an. Da hast du alles wieder vor dir. Alles.

Wohin sind Sie geflüchtet?
Wir sind dann mit dem August Weiß (Stiefvater. Die Eltern hatten sich früh getrennt; Anm. d. Red.) nach Nordhausen, der hatte da Verwandtschaft. Die Nazis hatten zwar am Anfang die Leute eingesammelt. Aber in Nordhausen waren noch welche, weil die erst in einem zweiten Schub wegsollten, weil der erste voll war. Die wurden zwar noch verfolgt, aber kamen nicht mehr ins Lager. Da kamen dann die Amerikaner. In Nordhausen habe ich auch meinen Mann kennengelernt, Theodor. 16 Jahre und drei Monate war ich, wie ich geheiratet habe. Über meinen Schwiegervater, Heinrich Weiß, sind wir dann nach Hameln gekommen.

Danke für das Gespräch.

Interview: Philipp Killmann
Diese Aufnahme von Bluma Weiß entstand im Juni 1964 bei einem Besuch der Dewezet im Wohnwagenlager der Familie Weiß im Rettigs Grund. Nur wenige Wochen zuvor hatte Bluma Weiß zu ihrem Glauben gefunden. Foto: Archiv
Diese Aufnahme von Bluma Weiß entstand im Juni 1964 bei einem Besuch der Dewezet im Wohnwagenlager der Familie Weiß im Rettigs Grund. Nur wenige Wochen zuvor hatte Bluma Weiß zu ihrem Glauben gefunden. Foto: Archiv
Schließen
Zum Anfang

Hugo Steinbach (86) erinnert sich:

Vollbild
„Als ich neun Jahre alt war und gerade in die zweite Klasse sollte, kamen wir ins Lager. Morgens früh kamen sie und holten uns ab (in Hamburg; Anm. d. Red.). Wir durften nur 50 Pfund an Sachen mitnehmen. Wir kamen in ein Lager in Polen (Belzec; Anm. d. Red.). Wir waren in vielen Lagern. Ich war erst neun, aber musste arbeiten wie ein Mann. Unter Schlägen. (Zeigt seine vernarbten Augenlider und eine große Narbe am rechten Schienbein; Anm. d. Red.). Mein Bein ist lahm. Ich habe Kohlenwaggons geschoben, da war Schlacke drin, und die haben wir durchgesiebt.

Einer wollte was trinken, nur einen kleinen Schluck. Der wurde abgeschossen! Es gab nur Suppe, die war wie Wasser. Wenn ein Hund oder eine Katze von einem Auto totgefahren wurde – dann kam die rin in‘ Topp!

Meine Mutter ist dort gestorben. Mein Vater hat uns alle zusammengehalten.

Ich war nie wieder in der Schule. Ich wurde gestraft fürs Leben. Habe nie mehr Lesen und Schreiben gelernt.

Dann sind wir geflüchtet. Die Deutschen wollten uns abschießen. Wir standen schon in einer Reihe auf dem Acker. Da kamen die Russen und haben uns befreit.

Nach der Nazi-Zeit blieb die Angst uns noch lange in den Knochen. Wenn wir Uniformen gesehen haben, dann haben wir uns immer weggeduckt. Wir müssen aber auch vergeben, sonst wären wir ja keine Christen.“

Dokumentenquelle:  Namenliste umgesiedelter Zigeuner aus Hamburg (Kopie), 1.2.1.1/ 11197819/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen









Schließen
Zum Anfang

Reilo Weiß (69) erinnert sich:

Vollbild
„Mein Stiefvater, Robert Rose, hat mir erzählt, wie er in Auschwitz im KZ war. Er musste mit ansehen, wie seine Kinder getötet wurden. Im Winter musste er ohne Hose draußen stundenlang stehen, im Sommer mit Schal und Mütze. Auf seinem Arm war die Nummer aus Auschwitz tätowiert.

Er hat die Deutschen gehasst. Wenn er später was getrunken hatte, wurde er aggressiv. Nicht uns gegenüber, das nie, aber Deutschen gegenüber. Wenn dann einer sagte ,Du Zigeuner!‘, dann war das alles wieder da.

Eine kleine Entschädigung hat er wohl bekommen. Aber wie will man das Leben der eigenen Kinder entschädigen?

Seitdem herrschen viele gegenseitige Vorurteile. Mein Stiefvater war nicht gut auf die Deutschen zu sprechen. Das färbte auf uns Kinder ab.

Aber heute sind wir Christen. Wir versuchen, die Deutschen lieb zu haben, deshalb möchte ich Vorurteile abbauen.“

Schließen
Zum Anfang

Wiesemann Rosenberg (50) erinnert sich:

Vollbild
„Mein Opa väterlicherseits, Rigo Rosenberg, und seine ganze Familie waren im KZ (Belzec u.a.; Anm. d. Red.). Raus haben es nur mein Opa und seine Schwester geschafft. Der Rest wurde vergast, an den Zwillingen wurde medizinisch herumexperimentiert. Die Angehörigen wurden vor den Augen meines Opas in die Gaskammer gesteckt. Sie wurden von ihm losgerissen, und er musste weiterarbeiten.

Meine Oma hatte noch die KZ-Nummer tätowiert. Sie war in Auschwitz und Bergen-Belsen. Mein Opa hat mit uns über diese Zeit gesprochen und viel erzählt. Er sagte uns, wir müssen uns an die Gesellschaft anpassen, weil wir eine andere Hautfarbe und eine andere Sprache haben. Deshalb müssen wir zur Schule gehen, eine Lehre machen und uns integrieren, damit so was nicht wieder passiert.

Die Deutschen heute können nichts dafür. Aber es ist eine Vergangenheit, die wehtut. Ich habe meine eigenen Vorfahren nicht kennenlernen können. Sie fehlen jetzt. Das bedeutet Traurigkeit und Schmerz.

Was damals passiert ist, hat auch mich geprägt. Vor allem, vorsichtig zu sein und mich an die Gesetze zu halten. So habe ich es auch an die Jüngeren aus unserer Familie weitergegeben. Denn das war eine schlimme Sache, das darf nicht noch mal passieren.

Aber ich habe immer viele deutsche Freunde gehabt und komme schon immer gut mit ihnen aus. Und warum ist das so? Weil ich so lebe, wie es mein Opa mir gesagt hat! Klar, andere kennen mich nicht und hauen mir die Tür vor der Nase zu. Aber eine deutsche Familie aus Hamburg wollte mich sogar mal adoptieren, weil ich ihrem verstorbenen Sohn so ähnlich sah, und sie mich so mochten. Das ging natürlich nicht, schließlich habe ich meine eigenen Leute. Aber ich besuche sie immer noch.“








Schließen
Zum Anfang

Rudolf Freiwald (70) erinnert sich:

Vollbild
„Sie waren gerade auf der Durchreise, als sie in Warburg von der Polizei kontrolliert und weggenommen wurden. Die Männer kamen in Arbeitslager. Meine Mutter, Caroliné Freiwald, kam in die Erziehungsanstalt Schweicheln bei Herford. Da war sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr.

Dann suchte ein Bauer eine Magd, und meine Mutter hatte sich nichts bei gedacht, wollte nur weg vom Heim. Dann war sie bis 21 bei dem Bauern in Heidelbeck (im Kalletal; Anm. d. Red.), bis mein Opa sie dort abgeholt hat. Sie musste dort sehr schwer arbeiten: Kuh- und Schweineställe ausmisten, die Kühe melken, sämtliche Arbeiten verrichten und am 20. April Hitler seine Fahne raushängen.

Dann kamen die Amerikaner und wollten was zu essen. Meine Mutter hat ihnen gesagt, wo sie alles finden. Da hat der Bauer mit ihr geschimpft. Doch die Amerikaner haben den Bauern an die Wand gestellt und gesagt, wenn er nicht sofort aufhört, dann erschießen sie ihn. Die Amerikaner haben dann in seinem Bett geschlafen.“ (lacht)


Schließen
Zum Anfang

Ramona Weiß (59) erinnert sich:

Vollbild
„Meine Oma war mit meinem Opa im Lager in Polen. Vier von ihren acht Kinder sind dort gestorben, ermordet worden. Ich kann nicht sagen, in welchem Lager das war, aber eine meiner Tanten ist in Starachowice zur Welt gekommen.

Meine Mutter, Sophie Weiß, ist mit fünf oder sechs Jahren ins Konzentrationslager gekommen. Sie selbst konnte nicht lesen und schreiben. Aber bei uns Kindern hat sie später sehr darauf geachtet, dass wir es lernen.

Meine Oma hat immer gesagt, wir sollen die Leute jetzt nicht hassen. Die haben nichts damit zu tun, was früher gemacht wurde. Aber ich krieg manchmal immer noch Wut! Wenn ich im Fernsehen sehe, was früher mit uns angestellt wurde.“

Schließen
Zum Anfang
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Die Geschichte von August Weiß

Luise und August Weiß haben die Nazizeit überlebt - viele ihrer Angehörigen nicht. Als sie nach Hameln kamen, hatten sie jedoch weiterhin mit Problemen zu kämpfen, stritten mit der Stadt um einen Stellplatz und um die Entschädigungen für die im Dritten Reich erlittenen Schäden. Das ist ihre Geschichte.

Zum Anfang
August Weiß kommt 1911 in Hamburg-Altona zur Welt. Dort wird der Musiker und Händler im Mai 1940 mit etwa 2340 weiteren Sinti und Roma aus Hamburg, Nord- und Westdeutschland in das Lager im polnischen Belzec deportiert. Von dort aus wird er im Oktober in das Lager Krychow verschleppt, im November in das Ghetto Siedlce. Bis zur Befreiung durch Russland im Februar 1945 befindet sich Weiß in Liegnitz. Nach der Befreiung sucht Weiß mit seiner Familie Verwandtschaft in Nordhausen auf, wo er wegen Unterernährung drei Wochen im Krankenhaus liegt.

Zum Anfang
Von den Versuchen, eine Entschädigung zu bekommen, zeugen unzählige Briefwechsel zwischen Weiß’ Rechtsanwälten und den Behörden, in denen um die im untersten fünfstelligen Bereich liegenden Entschädigungssummen gestritten wird. Zwar erhält die Familie Weiß im Juli 1954 eine Entschädigung in Höhe von 4500 Mark pro Kopf „für erlittene Freiheitsentziehung“. Doch das 1956 vom Bundesgerichtshof (BGH) verabschiedete (und erst 1965 revidierte) Urteil bedeutet für die Sinti eine zusätzliche Schmach.

Zum Anfang
Laut BGH-Urteil erfolgte die im April 1940 von SS-Führer Heinrich Himmler angeordnete „Umsiedlungsaktion (der Sinti und Roma; Anm. d. Red.) (…) ausschließlich aus militärischen bzw. sicherheitspolizeilichen Erwägungen“, wie es 1957 auch in einem Ablehnungsbescheid von Dr. Hans Georg Suermann, dem damaligen Regierungspräsidenten in Hildesheim, an August Weiß heißt. Die Deportation sei „nicht als Verfolgungsmaßnahme aufzufassen“. Damit wurde die Verfolgung der Sinti durch den BGH legitimiert: wegen ihrer „eigene(n) Asozialität, Kriminalität und (ihres) Wandertrieb(s)“.

Zum Anfang
„Erst die auf Grund der sog. Auschwitzerlasse v. 6.12.42 bzw. 29.01.43 gegen Zigeuner gerichteten Maßnahmen“ seien „ausschließlich aus rassischen Gründen durchgeführt worden“, so der Regierungspräsident. Folglich wird Weiß’ mit dem „Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ begründeter Antrag auf „Soforthilfe für Rückwanderer“ in Höhe von 6000 Mark als „unbegründet“ abgewiesen. In Wirklichkeit sind Sinti und Roma von den Nazis von Anfang an als „Fremdrasse“ stigmatisiert und verfolgt worden.
Zum Anfang
In der Nachkriegszeit lebt August Weiß mit seiner Familie zunächst in Uslar. Weiß betreibt Pferdehandel, von dem er eigenen Angaben zufolge „schlecht und recht leben“ kann, der sich nach der Währungsreform aber kaum noch rentiert, sodass er mit Geigen, Textilien und Kurzwaren zu handeln beginnt. Zwischenzeitlich spielt er in der „Original ungarischen Zigeuner-Kapelle Charles Weiss“ eines Karl-Heinz Sippel.
Zum Anfang
Im Januar 1957 stoßen August Weiß (45) und seine Frau Luise (51) aus Uslar zu der bereits seit drei Jahren in Hameln ansässigen Sippe um Heinrich Weiß dazu. Sie stellen ihren Wohnwagen, in dem sie mit ihren Kindern leben, zu den anderen auf dem Platz an der Ohrschen Landstraße. Alle zusammen werden wenig später an einen neu angelegten Stellplatz neben die Kläranlage an der Fischbecker Landstraße umgesiedelt.

Zum Anfang
August Weiß bittet die Regierungspräsidentin Theanolte Bähnisch in Hannover, ihm den Aufenthalt an der Lagerstelle am Frettholz für sechs Monate zu genehmigen. Eine Wasserpumpe sei vorhanden, eine „Abortgrube nebst Klosett“ würde er auf eigene Kosten errichten. Seine Familie, so Weiß, habe eh nicht vor, länger als nötig am Frettholz zu bleiben. „Um nun aber auch der Aufforderung der Stadt möglichst schnell gerecht zu werden, hat meine Ehefrau von ihrer Abfindung aus der nationalsozialistischen Verfolgung ein Grundstück in Hameln auf der Hummenstraße erworben“, schreibt Weiß weiter. Da aber alle Wohnungen derzeit noch vermietet seien, könne die sechsköpfige Familie das kleine Haus noch nicht beziehen.
Zum Anfang
Die Beschwerde wird von der Regierungspräsidentin nur wenig später als „unbegründet“ zurückgewiesen. Von dem Platz an der Kläranlage gehe kein Schaden für die Gesundheit aus, „durch den Geruch allenfalls eine gewisse Beeinträchtigung des allgemeinen Wohlbefindens“. Auf die erlittene gesundheitliche Beeinträchtigung von Luise Weiß durch die Verfolgung unter den Nazis geht Regierungspräsidentin Bähnisch in dem vierseitigen Schreiben mit keinem Wort ein. Am 11. Juli 1957 wird die Sippe Weiß unter Einsatz der Polizei vom Frettholz wieder zur Kläranlage zwangsumgesiedelt. Doch spätestens im März 1958, wann genau, lässt sich nicht nachvollziehen, hat der Ärger mit der Stadtverwaltung zumindest für August Weiß und seine Familie ein Ende: Sie beziehen ihr Haus in der Hummenstraße.

Zum Anfang
Auch in Hameln gehen die Streitigkeiten um Entschädigungszahlungen weiter. Die Entschädigungsbehörde Hildesheim weist die Stadt Hameln 1957 an, Weiß die Entschädigung in Höhe von 6000 Mark auszuzahlen. Doch der Hamelner Stadtrat Dr. Hans Krüger – im Dritten Reich für die Bearbeitung der „Judensachen“ zuständig – bittet die Behörde um Rückerstattung der an August Weiß zwischen Februar 1957 und August 1958 gezahlten Fürsorgekosten in Höhe von 2130,60 Mark – mit Erfolg. Die Stadt darf den entsprechenden Betrag einbehalten, sodass Weiß nur 3869,40 Mark ausgezahlt werden. Weiß klagt – doch erst vier Jahre später, im November 1962, gibt ihm das Verwaltungsgericht Hannover recht und verpflichtet die Stadt Hameln, ihm den von der Soforthilfe einbehaltenen Betrag doch noch auszuzahlen.

Zum Anfang
Ramona Weiß (59), eine Enkeltochter, hat in der Hummenstraße ihre Kindheit verbracht. Vor allem an ihren Großvater hat sie noch lebhafte Erinnerungen. „Er war ein großer, stattlicher, schöner Mann“, sagt sie. „Er war immer sehr gepflegt, trug immer Anzug mit Fliege oder Krawatte.“ Sogar zum Angeln, das er so gemocht habe, an der Weser sei er im Anzug gegangen. „Manchmal wurde er wegen seines Aussehens für einen Kriminalbeamten gehalten“, sagt Weiß und lacht. Aber August Weiß war nicht nur begeisterter Angler, sondern auch leidenschaftlicher Musiker. In seiner Heimatstadt Hamburg hatte der Geiger in einer Kapelle gespielt. „Oben im Haus hat mein Großvater ein kleines Zimmer gehabt“, erzählt Weiß. Das Zimmer war so niedrig, dass er sich habe bücken müssen. „Da spielte er dann Geige, und die Leute unten auf der Straße blieben stehen und hörten sich das an.“
Zum Anfang
Pastor Harald Specht vom „Freien evangelischen Zentrum“ in Hameln, der früh mit den Hamelner Sinti in Kontakt stand, erinnert sich ebenfalls an August Weiß: „Ich weiß noch, wie er mit seinem Geigenkasten durch die Stadt gezogen ist und gespielt hat. Er war sehr gentlemen-like, immer sehr gut gekleidet und sehr vornehm im Umgang.“

August Weiß stirbt 1989, seine Frau Luise 1986. Die Hummenstraße 2 bleibt bis in die 90er Jahre ein Zuhause ihrer Nachkommen.

Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Der Umzug ans Hamelwehr

Die Geschichte der Familie Weiß ist untrennbar mit der des Hamelwehrs verknüpft. Als die Stadt 1964 ankündigte, sie von ihrem inoffiziellen Wohnwagenplatz am Rettigs Grund in der Nordstadt ans Hamelwehr umzusiedeln, äußerten sie Bedenken. Der schlechte Ruf, der dem Hamelwehr vorauseilte, war auch den Sinti nicht entgangen. Dennoch zog die Familie im November 1964 dorthin. 
Zum Anfang
Zunächst sahen manche Sinti in der neuen Bleibe sogar eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards. „Die Baracken am Hamelwehr waren für uns praktisch die erste Wohnung“, sagt Bluma Weiß (88). „Baracken zwar, aber für uns wie ein Palast.“ 
Zum Anfang
Reilo Weiß' Mutter hatte darauf bestanden, ihren Wohnwagen mit ans Hamelwehr zu nehmen. „Sie hat den Wohnwagen noch jahrelang gehabt. Die konnte sich nicht davon trennen“, erzählt Weiß. „Das war ihre Heimat. Wir sind da ja praktisch groß drinnen geworden.“ Mitgenommen wurde auch der ausgediente Postbus, der den Sinti als Gemeindesaal diente.
Zum Anfang
Manche Sinti zogen später in Werkswohnungen der Handschuhfabrik Hahlbrock am angrenzenden Hahlbrockweg. „Das war die schönste Zeit“, sagt Wiesemann Rosenberg (50). „Damals wohnten wir alle zusammen. Mein Onkel wohnte mit seiner Familie direkt nebenan in der anderen Haushälfte, mit meinen Cousins und Cousinen.“ Zusammen gingen sie zur Schule und zum Angeln. „Wir hatten einen Riesengarten mit lauter Blumen“, sagt Rosenberg. „Und hinterm Haus hatten wir Kartoffeln, Hühner, Schweine und Pferde.“
Zum Anfang
Einige der damaligen deutschen Bewohner und Besucher des Hamelwehrs haben die Familie Weiß noch gut in Erinnerung. Manche erinnern sich an ihre Lagerfeuer vor den Baracken und an die Musik mit Geige und Gitarre, die sie dazu spielten. Andere ließen sich von einer älteren Sintezza aus der Hand lesen. Wieder andere gerieten mit einzelnen Sinti in Streit. Doch den gab es mit anderen Bewohnern auch.
Zum Anfang
Aber am Hamelwehr war längst nicht alles gut. 1966 beklagte Ratsherr Bruno Ibsch (CDU) nach einer Besichtigung der Siedlung bei Regen kaum begehbare Wege und den Mangel an sanitären Anlagen, wie die Dewezet berichtete. Fassungslos sei Ibsch angesichts einer jüngst am Hamelwehr aufgeschlagenen Schaustellerfamilie, die mit zehn Kindern in einem Wohnwagen lebe. In diesem Zusammenhang merkte Stadtdirektor Groß an, dass die vom Rettigs Grund ans Hamelwehr umgesiedelten „Zigeuner“ anstandslos ihre Miete bezahlten und „bei Zwischenfällen, die sich von Zeit zu Zeit dort ereignen, niemals beteiligt gewesen“ seien.
Zum Anfang
Ansprechpartner, wenn es um Angelegenheiten der dort lebenden Sinti ging, war Karl Weiß. Er war der sogenannte „Bürgermeister“, der wohl auch sonst einen guten Draht zu seinen Mitmenschen hatte. „Das war ein Hansdampf in allen Gassen, ein sehr agiler, kontaktfreudiger Typ“, sagt Pastor Specht.   Rolf Homberg (80) war er sogar als „Häuptling der Familie Weiß“ bekannt. Er hatte beruflich mit ihm zu tun und kann nur Gutes über ihn sagen. „Ich war sogar auf seiner Beerdigung“, sagt Homberg. 
Zum Anfang
Der Bürgermeister wurde nur 53 Jahre alt. Über 500 Trauergäste, die meisten davon Angehörige der Sippe Weiß aus ganz Deutschland, nahmen im Januar 1980 bei der Bestattung am Friedhof Wehl von ihm Abschied, wie die Dewezet umfangreich berichtete. Das Hamelwehr war drei Jahre zuvor aufgelöst worden. Karl Weiß‘ letzter Wohnsitz war die Deisterstraße.
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
Zum Anfang

Der Lebensstil der Sinti - ein Geheimnis?

„Wir haben nur eine Chance, als Sinti zu überleben, mit unserer Kultur, unserer Eigenständigkeit in Sprache und Brauchtum, wenn wir uns öffnen, Einblick geben in unsere Vorstellung vom Leben“
 

Romani Rose kurze Zeit, bevor er den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gründete. Viele Hamelner Sinti sehen das anders.


Zum Anfang
Die Hamelner Sinti wollen ihre Sprache, ihre Kultur für sich behalten. Keiner will „der Verräter“ sein, der den Lesern der Dewezet die Sitten und Bräuche der Sinti preisgibt. Zu groß ist das Misstrauen, zu oft sind sie schon gegen sie verwendet worden. Also bleibt dem Journalisten nichts anderes übrig, als Bücher zu wälzen.
Zum Anfang
Als Gadsche oder auch Chale werden alle Nicht-Sinti bezeichnet. Dabei wird auch zwischen den Dingen unterschieden. Den Dingen der Gadsche, die als „roh“ („ialo“) gelten, und denen der Sinti, die „gekocht“ sind.

Quelle: "Du wirst keinen Ehemann nehmen!" von Elisabeth Tauber
Zum Anfang
Die Abgrenzung von den Gadsche sei, wie der Ethnologe Rüdiger Vossen in seinem Buch „Zigeuner“ (1983) schreibt, „einerseits durch die vielfältigen negativen Erfahrungen“ mit der Mehrheitsgesellschaft begründet. Andererseits, so Vossen weiter, werde sie aber auch durch ein Bewusstsein über die eigene Andersartigkeit und einen Stolz auf die eigenen Traditionen und Werte gefördert.

Quell: "Zigeuner" von Rüdiger Vossen
Zum Anfang
Die Kultur der Sinti ist in erstaunlich ausgeprägter Weise erhalten geblieben, was leicht durch das Weiterbestehen des eigenen Rechtsystems zu erkennen ist. Dieses Rechtssystem besteht aus „Meidungs- und Reinheitsvorschriften“. Dies erklärt auch die Abgrenzung von den Gadsche. 
Verstöße gegen die Vorschriften werden geahndet. Dafür wird im Zweifel ein Rechtsprecher zurate gezogen. Bestraft wird mit Ausschluss unterschiedlicher Intensität aus der Gemeinschaft. 

Quelle: "Zigeuner" von Rüdiger Vossen




Zum Anfang
Die Reinheitsgebote beziehen sich etwa auf den weiblichen Körper und seinen Organismus, auf Hygiene, die Ernährung und den Tod. Daraus leitet sich zum Beispiel ab, dass die meisten Sintezza, also Sinti-Frauen, Röcke tragen, oder dass es Sinti verboten ist, Pferdefleisch zu essen.

Quelle: "Zigeuner" von Rüdiger Vossen 
Zum Anfang
Ein weiteres Tabu ist der (unnötige) Umgang mit Ärzten und Krankenschwestern, „da diese durch den häufigen Kontakt mit Krankheiten und dem Tod als ,unrein‘ gelten“, schreibt der Ethnologe. Daher sei es für einen Sinto „undenkbar, in einem Krankenhaus zu arbeiten“.

Quelle: "Zigeuner" von Rüdiger Vossen


Zum Anfang
Tatsächlich gibt es nur ein einziges und längst vergriffenes Buch über das Romanes, die Sprache der deutschen Sinti. Sie ist keineswegs einheitlich, sondern besteht aus verschiedenen Dialekten. Die 1993 erschienene wissenschaftliche Arbeit „Das Romanes“ basiert auf den Dialekten der Sinti aus Köln, Hildesheim und vor allem aus – Hameln. 

Zum Anfang
Die Sprache der Sinti ist das Romanes, auch „Romnes“ ausgesprochen. „Wenn du zu den Sinti ,Latscho diewes‘ sagst, dann freuen sie sich schon mal, das heißt nämlich ,Guten Tag‘“, erklärt der Hamelner Reilo Weiß (69). Aber das war es dann auch schon mit dem Sprachunterricht. Die Sinti wollen ihr Romanes für sich behalten. Kein Sinto bringt einem Chalo seine Sprache bei. 
Zum Anfang
Auch in den Namen der Sinti kommt die Abgrenzung von den Gadsche zum Ausdruck. Zusätzlich zu ihrem Namen, der im Pass steht, haben die meisten noch einen Sinti-Namen, der – unter Sinti – ihr Rufname ist. Es sind „sehr oft Namen von Vögeln und anderen Tieren; von Blumen, Früchten und anderen Dingen, die die Natur uns schenkt“, erklärt die Sintezza Philomena Franz in ihrem Buch „Zigeunermärchen“ (1982), Namen wie Trauba oder Spatzo. 
Zum Anfang
Manche älteren Sinti haben die Sorge, dass ihre Sprache auszusterben droht. „Früher konnten viele von uns schlecht Deutsch. Heute sprechen viele von uns schlecht Romanes“, sagt Reilo Weiß. Für ihn ist das Romanes untrennbar mit der Identität der Sinti verbunden. „Es fühlt sich für mich komisch an, wenn ich mit einem Sinto Deutsch sprechen muss oder ein Chalo Romanes spricht.“
Zum Anfang
Schließen
Dennoch fließen auch Romanes-Worte ins Deutsche ein. Mancher Hamelner erinnert sich vielleicht noch an die in den 90er Jahren auf Schul- und Hinterhöfen geäußerte Frage: „Alles latscho?“, zu Deutsch: Alles gut? 2012 landete der Rapper Haftbefehl aus Offenbach mit dem Song „Chabos wissen, wer der Babo ist“ einen Chart-Hit. Chabos, ausgesprochen: Tschabos, ist dem Romanes entlehnt und bedeutet „Jungs“, während Babo sich aus dem Zaza oder Kurdischen ableitet und „Vater“ bedeutet, hier: „Boss“. Der Rapper Jeffrey, ein Sinto aus Osnabrück, hat Anfang 2017 ein Album namens "Zigeuner" veröffentlicht, auf dem er sich unter anderem mit Vorurteilen und seiner Identität auseinandersetzt.
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Jeffrey - Baumbude Remix

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Besonders ausgeprägt ist der Einfluss des Romanes aufs Deutsche in Minden. Dort gab es die Buttjersprache, die sich aus Romanes, Jiddisch und anderen Sprachen zusammensetzte. Manche Worte leben in der Alltagsprache der Mindener fort. Einen Eindruck davon vermitteln die Rapper Italo Reno, der selbst Sinti-Hintergrund hat, und Germany in ihrem Song „Minden Slang“.
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
ItaloReno & Germany - Minden Slang

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
So unsichtbar, wie häufig behauptet wird, sind die Sinti nicht. Es gibt sogar einige prominente Sinti. Eine der bekanntesten ist die Sängerin Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“), die Tochter des Auschwitz-Überlebenden und Bürgerrechtsaktivisten Otto Rosenberg. Ein weiterer bekannter Sinto war Johann „Rukeli“ Trollmann. Der deutsche Boxmeister kam unter den Nazis im KZ zu Tode. Eine bekannte Sintezza ist die Autorin Philomena Franz. Die Auschwitz-Überlebende verarbeitet ihre Erlebnisse in Büchern und tritt öffentlich als Zeitzeugin in Erscheinung. Viele bekannte Musiker waren Sinti: der Geiger Schnuckenack Reinhardt und der Gitarrist Häns’che Weiß zum Beispiel. Die junge Dotschy Reinhardt ist Sängerin und Autorin. Aus der TV-Show „Deutschland sucht den Superstar“ ist der Sinto Menowin Fröhlich bekannt. Einen Sinti-Hintergrund hat auch Rap-Musiker Sido. Ein weiterer bekannter Sinto ist Romani Rose, der Vorsitzende und Mitbegründer des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Zum Anfang
Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Katza Ebernickel - Die Messerwerferin

    Renate Ebernickel hat viele Namen. Zur Welt kam sie als eine Weiß. Ihr Rufname unter Sinti lautet Katza. Als Schaustellerin hieß sie Isra Indra. „Nur Renate nennt mich niemand“, sagt sie und lacht.In ihrem Leben hat sie der Angst ins Auge geblickt. Sie ließ sich mit Messern bewerfen, war selbst Messerwerferin und hielt Riesenschlangen und Alligatoren in ihrer Wohnung. Heute lebt sie mit ihrem Hund Einstein in Schwerte.

    Zum Anfang
    Die Kindheit der Sintezza war hart. „In Uslar haben wir erst im Wohnwagen gelebt, mit vier bis fünf Leuten in einem Bett, dann in einer Baracke, weil es im Winter zu kalt wurde“, schildert sie. „Wir hatten kaum etwas zu essen.“ Ihre Mutter schickte die Kinder mit viel zu großen Schuhen in die Schule. Weil sie keine passenden hatte. „Deshalb stopfte sie die Schuhe mit Zeitungen aus“, erzählt die nun 73-Jährige. Wenn ihre Großmutter hausieren ging, dann begleitete Katza sie.
    Zum Anfang
    16 war Katza, als der Schausteller Jonny King in ihrer Heimatstadt Uslar Station machte. Der suchte gerade eine neue Partnerin. Die junge Frau verliebte sich erst in die Schaustellerei und später in Jonny King. Oder umgekehrt. Gemeinsam mit ihrer Schwester schloss sie sich jedenfalls der Schaubude von Jonny King an – ließ sich von ihm mit Messern bewerfen. Die beiden heirateten und bekamen zwei Kinder.
    Zum Anfang
    Im Laufe der Zeit lernte sie selbst, Messer zu werfen. Als ihr Mann starb, machte sie alleine weiter. „Ich war die einzige Messerwerferin in Europa“, sagt sie stolz. Auftritte hatte sie in Varietés und Discos, Zirkussen und Galas, auf Stadtfesten und in Kasernen. So auch in einer britischen Kaserne in Hameln. „Das war immer toll, die Engländer waren sehr nett“, erzählt sie. „Einmal hat eine Schlange einem Soldaten in die Zunge gebissen, als er sie nachgeäfft hat.“
    Zum Anfang
    Bei den Shows tritt sie gemeinsam mit Gerhard Böttcher („Geld wie heu“), Gunter Gabriel („Komm unter meine Decke“), Jürgen Drews, Nino d’Angelo oder Dieter Thomas Heck auf. „Das war ein schönes Leben, ganz toll“, sagt Ebernickel ohne Wehmut. „Aufgehört habe ich erst nach mindestens 30 Jahren, als mein damaliger Partner starb“, sagt sie.
    Zum Anfang
    Schließen
    Heute tritt sie nur noch selten als Messerwerferin auf, manchmal bei Hochzeiten. Oder für die Kamera, wie hier im Video:
    Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

    Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Christliche Missionare

    Unter christlichen Missionaren sind Sinti heiß begehrt. Zumindest um die Hamelner haben sie regelrecht gebuhlt. Schon als die Familie Weiß noch im Wohnwagenlager am Rettigs Grund lebte, tauchten dort regelmäßig Vertreter unterschiedlicher Gemeinden auf und bemühten sich um die Gunst der Sinti. Christlichen Glaubens waren sie zwar bereits. Die Missionare wollten sie aber zum evangelikalen Glauben bewegen.
    Zum Anfang
    Einer der ersten Geistlichen, die sich mit den Hamelner Sinti in Verbindung setzten, war Georg Althaus. Allerdings nicht aus rein religiösen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen. Bereits 1959 hatte sich der Pfarrer der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig in den Konflikt zwischen der Familie Weiß und der Stadt Hameln über den Aufenthaltsort der Sinti eingeschaltet. Der als „Zigeunerpastor“ bekannte Althaus besuchte die Familie Weiß am Rettigs Grund, wurde bei der Stadt vorstellig und richtete sich mit ausführlichen Schreiben an die Verwaltung. Zu seinen Forderungen zählten moderne Toiletten, eine Wasserleitung und gegebenenfalls feste Wohnunterkünfte – stieß bei der Stadt damit aber auf taube Ohren.
    Zum Anfang
    Befeuert wurde die Missionierung durch die Hamburger Sturmflut 1962. Wie durch ein Wunder waren die Wohnwagen der Hamburger Sinti-Sippe Weiß von der Flut verschont worden. Daraufhin lief die Missionarin Gertrud Wehl, die mit ihren Bekehrungsversuchen dort bis dahin gescheitert war, bei den Sinti offene Türen ein. In der Erinnerung von Marlene Weiß (75) war es auch jene „Schwester Gertrud“, die den Sinti am Rettigs Grund einen ausgedienten Postbus organisierte, der fortan als Gemeindesaal genutzt wurde.
    Zum Anfang
    Auch Hildegard Graf († ) von der „Landeskirchlichen Gemeinschaft“ in der Sandstraße suchte die Sinti am Rettigs Grund auf. „Sie hielt auf der Wiese Stunden mit den Kindern“, sagt Marlene Weiß. Später auch im Philipp-Spitta-Haus in der Sandstraße. Auch bei Behördengängen war „Tante Graf“, wie die Sinti sie nannten, der Familie Weiß behilflich, den Kindern half sie bei den Hausaufgaben. Pastor Harald Specht vom Freien Evangelischen Zentrum erinnert sich ebenfalls: „Sie hatte schon früh eine Antenne für die Sinti-Familien, vor allem für die Kinder und Jugendlichen, und sich über Jahre sehr beständig um sie gekümmert und ihnen dabei den evangelischen Glauben nähergebracht.“ Eines dieser Kinder war Marlene Weiß’ Sohn Rigo Weiß (51). „Sie war eine glaubhafte, überzeugende Christin“, sagt dieser.
    Zum Anfang
    1967 suchte der Pastor (und spätere Gründer der „Partei Bibeltreuer Christen“ [1989]) Gerhard Heinzmann erstmals die Hamelner Sinti auf. Mit den Glaubensbrüdern und -schwestern der Sinti hielt er über Jahre hinweg Gottesdienste in Wohnungen und Zelten ab und sprach die Trauerreden bei Beerdigungen, wie er sagt. Gemeinsam gingen sie in den Sommermonaten auf Zeltmission. „Wir waren 14 Tage hier, 14 Tage da. Da sind die Sinti dann tagsüber ihren Geschäften nachgegangen und abends in den Gottesdienst gegangen“, beschreibt Heinzmann die Missionen.

    Zum Anfang
    Schließlich kam der Kontakt zur „Mission für Süd-Ost Europa“ zustande. Die 1903 gegründete Mission, die sich unter anderem der Arbeit unter Sinti verschrieben hat, schickte 1984 eine Frau namens Maria Dams aus dem Lipperland nach Hameln. Neben der Missionsarbeit gab sie den Sinti-Kindern Hausaufgabenhilfe sowie Deutschunterricht und unterstützte die Erwachsenen beim Umgang mit den Behörden, schildert Andreas Weißbach, Pfarrer a. D. der Lippischen Landeskirche.

    Zum Anfang
    Pfarrer Andreas Weißbach gründete Anfang der 80er Jahre den „Verein für evangelistische und soziale Arbeit unter Sinti und Roma“. Der Verein hilft auch dabei, dass die Glaubensgemeinschaft der Hamelner Sinti ein Gemeindehaus bekommt - eine alte Gaststätte im Fährweg in Wehrbergen wird Sitz der Sinti-Missionsgemeinde Hameln. Aber nicht alle Hamelner Sinti sind heute in der dortigen Gemeinde zuhause. Manche gehören anderen freikirchlichen Gemeinden an, etwa dem Freien Evangelischen Zentrum. Letzteres veranstaltet jeden Donnerstag einen „Sinti-Gottesdienst“. Wieder andere sehen ihren Glauben in keiner Gemeinde richtig repräsentiert und üben ihn lieber im privaten Kreis aus.
    Zum Anfang

    Der Hamelner Reilo Weiß übersetzte das Neue Testament

    Reilo Weiß bei der Predigt im Sinti-Missionsgemeindehaus in Wehrbergen in den späten 80er Jahren. Foto: Reilo Weiß/pr
    Reilo Weiß bei der Predigt im Sinti-Missionsgemeindehaus in Wehrbergen in den späten 80er Jahren. Foto: Reilo Weiß/pr
    Vollbild
     Vor fast 30 Jahren begann ein Sinto mit der Übersetzung des Markus-Evangeliums“, ist auf der Website des Vereins „Romanes-Arbeit Marburg“ zu lesen. Was dort nicht steht: Dieser Sinto ist ein Hamelner. Reilo Weiß (69) hat dafür gesorgt, dass das Neue Testament in die Sprache der Sinti übersetzt wurde: ins Romanes. Weiß, der sich das Lesen selbst beibrachte, kam eines Tages bei der Bibellektüre auf den Gedanken, „das Wort Gottes“ ins Romanes zu übersetzen. „Damit mein Volk auch eine Bibel in seiner Sprache hat“, sagt er. „Da habe ich ein paar Verse übersetzt, aber ich war ja nur ein halbes Jahr in der Schule.“ Das war 1986. Unterstützung bekam er von Glaubensbruder Matthias Dams, der in den 80er Jahren mit seiner Schwester, der Missionarin Maria Dams, in der Sinti-Missionsgemeinde in Wehrbergen lebte. „Ich übersetzte, und er schrieb alles auf.“ Für ein paar Verse hätten sie manchmal Tage gebraucht. „Zum Beispiel das Wort ,Gemüt‘ gibt es so im Romanes gar nicht.“ Mit einem Österreicher von dem evangelikalen Verein Wycliff schloss sich ein weiterer Glaubensbruder dem Übersetzungsprojekt an. Weitere Wycliff-Mitarbeiter stießen dazu. Aus Reilo Weiß’ Projekt geht schließlich der Marburger Verein „Romanes-Arbeit“ hervor, der sich ebenfalls an der Übersetzung beteiligt. 2010 geht sie in Druck. Unter Sinti ist die Übersetzung nicht unumstritten. Das Romanes soll den Sinti vorbehalten bleiben. Gadsche, also Nicht-Sinti, soll die Sprache nicht beigebracht werden. „Aber ich bin kein Verräter, bringe keinem Gadscho unsere Sprache bei“, betont Weiß. „Es war Gottes Wille, das Neue Testament zu übersetzen.“ Zudem ist das Romanes nicht einheitlich, es variiert von Region zu Region. Trotzdem ist am Ende eine Übersetzung zustande gekommen. 2011 wurde Weiß in Marburg feierlich ein druckfrisches Romanes-Exemplar des Neuen Testaments überreicht: „O Debleskro Newo Drom“, zu Deutsch: Gottes neuer Weg.
    Reilo Weiß bei der Predigt im Sinti-Missionsgemeindehaus in Wehrbergen in den späten 80er Jahren. Foto: Reilo Weiß/pr
    Reilo Weiß bei der Predigt im Sinti-Missionsgemeindehaus in Wehrbergen in den späten 80er Jahren. Foto: Reilo Weiß/pr
    Schließen
    Zum Anfang
    Schließen
    Im August 2016 hat eine christliche Sinti-Mission aus dem Ruhrgebiet in Hameln Station gemacht. Philipp Killmann hat mit ihnen über Freikirchen, Missionsfahrten und Anpassung gesprochen.
    Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

    Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

    Zum Anfang
    Schließen
    Im August 2016 hat eine christliche Sinti-Mission aus dem Ruhrgebiet in Hameln Station gemacht. Philipp Killmann hat mit ihnen über Diskriminierung, Urlaub und erste Kontakte gesprochen.
    Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

    Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

    Zum Anfang
    Schließen
    Im August 2016 hat eine christliche Sinti-Mission aus dem Ruhrgebiet in Hameln Station gemacht. Philipp Killmann hat mit ihnen über die Taufzeremonie gesprochen.
    Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

    Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    "Zigeunerproblem"

    In Hameln und in Uslar lebten nach dem Zweiten Weltkrieg Sinti-Familien. Obwohl den beiden Städten zunächst gar nicht bewusst war, dass zwischen den Familien enge verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, tauschten sie sich über ihr jeweiliges „Zigeunerproblem“ aus. Der Briefwechsel ist überliefert.

    Zum Anfang
    Offiziell war mit Kriegsende die Naziherrschaft zwar vorbei. Doch damit verschwand das Gedankengut der Nazizeit nicht automatisch aus den Köpfen. So war vielen Städten daran gelegen, ihre Gemeinden weiter „zigeunerfrei“ zu halten. Die bloße Anwesenheit von Sinti wurde als „Zigeunerproblem“ erachtet. Dass mit diesem „Problem“ teilweise wohl recht unterschiedlich umgegangen wurde, wird am Beispiel eines brieflichen Austauschs zwischen den Städten Hameln und Uslar deutlich.
    Zum Anfang
    Ende März 1958 setzt sich Uslars Stadtdirektor Otto Dauer mit der Stadt Hameln in Verbindung. Die „Advent-Zigeunermission“ des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Northeim habe die Stadt „auf die katastrophalen Wohnverhältnisse“ der fünf in Uslar ansässigen „Zigeunerfamilien“ aufmerksam gemacht, schreibt Dauer. Ihre Wohnwagen seien so schlecht, „dass sie bald nicht mehr bewohnt werden können“. Es ist die Familie des späteren Hamelners Reilo Weiß, damals 10 Jahre alt, von der in dem Schreiben die Rede ist.
    (Reilo Weiß (4. v. li.) mit seiner Familie vor ihrem Wohnwagen in Uslar. Foto: Reilo Weiß/pr)

    Zum Anfang
    Die Stadt Uslar, so der Stadtdirektor weiter, wolle sich dem „Zigeunerproblem etwas mehr annehmen“. Dauer habe gehört, dass in Hameln „das Zigeunerproblem vorbildlich gelöst“ worden sei: zum einen durch den Bau von Baracken, zum anderen durch die Bereitstellung von Räumen „für die Durchführung caritativer Arbeit an den Zigeunern (Erteilung von Deutschunterricht, Kochvorführungen, Gesundheitsfürsorge, Ratschläge in der Haushaltsführung usw.)“. Der Stadtdirektor schließt den Brief in der Hoffnung auf „rechtbaldige Antwort“, „da in den Wohnverhältnissen der in Uslar seßhaften Zigeuner unbedingt etwas unternommen werden muss“.
    Zum Anfang
    Gut einen Monat später, am 24. April, antwortet der Hamelner Stadtdirektor Johannes Wagner mit einem anderthalbseitigen Brief. „Die zehn Zigeuner-Familien“ in Hameln würden „ihre Wohnwagen mehr oder weniger absichtlich verkommen lassen, um damit zu erreichen, dass für sie eine Baracke gebaut wird“, schreibt Wagner. Der Gedanke eines Barackenbaus sei von der Stadt jedoch bereits Ende 1956 fallengelassen worden, „und zwar aus grundsätzlichen Erwägungen“, so Wagner: „Es muss nämlich damit gerechnet werden, dass dann von anderen Kreisen und Gemeinden weitere Zigeuner zuziehen werden“.
    Zum Anfang
    In dem Brief des Hamelner Stadtdirektors folgen Ausführungen über das vermeintlich unsägliche Verhalten der Familie Weiß und ein Bericht über den Bau des von den Sinti abgelehnten Wohnwagenstellplatzes neben der Kläranlage. Abschließend stellt Wagner noch klar, dass in Hameln keine Räume für „caritative Arbeit an den Zigeunern“ zur Verfügung gestellt wurden. Erst 1963 kommt Stadtdirektor Wagner auf den Gedanken, die katholische Kirche in den Konflikt mit der Familie Weiß einzubeziehen, wenn auch nur, um das „Zigeunerproblem“ durch „eingehende Betreuung“ lösen zu wollen. Es blieb bei der Idee.
    Zum Anfang
    Jahre nach der Korrespondenz zwischen Wagner und Dauer, im Dezember 1962, zieht die Uslarer Sinti-Familie um Robert Rose (1909-1983) – Reilo Weiß‘ Stiefvater –, zu ihrer Verwandtschaft in Hameln. Auf Nachfrage, „wie es käme, dass die Zigeuner alle Uslar verlassen hätten“, kommt folgende Antwort: „Die Zigeuner in Uslar, die fast ausschließlich zur Sippe Weiß gehören, seien in Wohnbaracken untergebracht gewesen“, die im Zuge des „Barackenräumprogramms“ abgerissen worden waren. Dafür habe die Stadt „den Zigeunern Wohnwagen zur Verfügung gestellt“. Reilo Weiß hat dies umgekehrt in Erinnerung. Die Stadt sei dagegen gewesen, dass die Sinti in Wohnwagen wohnten und hätte ihnen deshalb eine Holzbaracke zur Verfügung gestellt. „Später gab uns die Stadt Geld für die Fahrt nach Hameln“, sagt Weiß. „Die wollte uns wohl loswerden.“
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Die wechselhafte Geschichte von Reilo Weiß

    Reilo Weiß – knapp 1,80 Meter groß, breite Schultern, graumeliertes, lichtes Haar, Brille und Schnauzer bis zum Kinn – ist unter Hamelner Sinti eine Respektsperson. Das Wort des heute 69-Jährigen hat Gewicht. Anfangs ist er misstrauisch: Einem Chalo, also Nicht-Sinto, von der Presse etwas über die Sinti erzählen? Schließlich willigt er ein, weil er, wie er sagt, Vorurteile gegenüber „seinen Leuten“ abbauen wolle. Außerdem sei er Christ. Und als Christ müsse man doch aufeinanderzugehen. Das ist seine Geschichte.

    Zum Anfang

    Reilo Weiß Jahrzehnte später an seinem Lieblingsbaum in Uslar. Foto: pk
    Reilo Weiß Jahrzehnte später an seinem Lieblingsbaum in Uslar. Foto: pk
    Vollbild
    Reilo Weiß kommt 1947 in Uslar zur Welt. Mit seiner Mutter Luise, ihren Eltern, seinem Stiefvater, sechs Geschwistern und einem Onkel lebt er in einer Barackensiedlung am Rande der Uslarer Altstadt. Seine Mutter hat einen Wohnwagen, den sie zu neunt bewohnen. Im Winter weckt ihn sein Stiefvater in der Früh. Dann gehen die beiden raus, waschen sich den Oberkörper mit Schnee und machen das Feuer, damit die Frauen kochen können. „Ich weiß, was Hunger bedeutet“, sagt Weiß. Aus der Not heraus stiehlt er auch mal ein Huhn. Mit etwa 13 arbeitet er für die Stadt als Straßenfeger.

    An manchen Tagen betrinkt sich sein Stiefvater Robert Rose, wird aggressiv. Nicht seiner Familie gegenüber, das nie. Aber wenn ein Deutscher ihn dann provoziert, fackelt er nicht lange. Rose hatte im Konzentrationslager Auschwitz mit ansehen müssen, wie seine Kinder getötet wurden. Reilo Weiß‘ Mutter war in ihrer Heimatstadt Nordhausen im Arbeitslager. Rose ist auf die Deutschen, wie Weiß sagt, „nicht gut zu sprechen“. Das färbt auf die Kinder ab.

    In Uslar verbringt Reilo als Junge viel Zeit allein. Andere Sinti in seinem Alter gibt es nicht. Die deutschen Kinder lehnen ihn ab, einmal verprügeln sie ihn sogar. „Aber ich bin stolzer Sinto“, sagt Weiß, mit einem Lächeln zwar, aber – stolz. Er schnitzt sich einen Speer und verteidigt sich. Verschafft sich Respekt. Mit Gewalt. Wenn‘s sein muss auch gegen den „Rotfuchs“, ein Polizist, der es auf ihn abgesehen hat. Manchmal sitzt Reilo stundenlang in einem riesigen hohlen Baum im Eichholz, einem nahegelegenen Waldstück. Hier fühlt er sich geborgen.

    Reilo Weiß Jahrzehnte später an seinem Lieblingsbaum in Uslar. Foto: pk
    Reilo Weiß Jahrzehnte später an seinem Lieblingsbaum in Uslar. Foto: pk
    Schließen
    Zum Anfang

    In Norwegen hatte Reilo Weiß, hier am Fjord, eine unbeschwerte Zeit. Foto: R. Weiß
    In Norwegen hatte Reilo Weiß, hier am Fjord, eine unbeschwerte Zeit. Foto: R. Weiß
    Vollbild
    In der warmen Jahreszeit geht die Familie „auf Reise“, betreibt Handel mit Kurzwaren, abends sitzen sie am Lagerfeuer. In die Schule geht Reilo kaum, insgesamt nicht länger als ein halbes Jahr. „Unsere Eltern nahmen die Schule nicht so ernst“, sagt er. Sein Interesse an Lesen und Schreiben wird trotzdem geweckt: durch Sigurd und Akim, die Comic-Helden von Hansrudi Wäscher, Hefte, die er bis heute sammelt. Mithilfe seiner älteren Schwester bringt er sich das Lesen selber bei.

    Über die für ihre Missionsarbeit unter Sinti und Roma bekannte Gertrud Wehl († 2015) aus Hamburg kommt Reilo als Jugendlicher öfter in ein Ferienlager in Norwegen. Dort hat er eine unbeschwerte Zeit, schwimmt im Fjord und lernt sogar etwas Norwegisch.  
    In Norwegen hatte Reilo Weiß, hier am Fjord, eine unbeschwerte Zeit. Foto: R. Weiß
    In Norwegen hatte Reilo Weiß, hier am Fjord, eine unbeschwerte Zeit. Foto: R. Weiß
    Schließen
    Zum Anfang

    Die Stationen der Familie Weiß in Hameln.
    Die Stationen der Familie Weiß in Hameln.
    Vollbild
    Im Dezember 1962 verlässt die Familie Uslar. Sie wollen nach Hameln, wo auch die übrigen drei Kinder von Reilos Großeltern leben. Einer ihrer Söhne war „im Lager“ umgekommen. Das Hamelner Ordnungsamt weist ihnen den für die Sinti angelegten Stellplatz neben der Kläranlage zu. „Das war keine schöne Ecke“, erzählt Weiß und merkt an: „Aber für uns Sinti gerade gut genug.“ Bald darauf ziehen sie an den Rettigs Grund, wohin die Hamelner Sinti wegen des Gestanks an der Kläranlage bereits ausgewichen waren. Den von der Stadt nur schmerzlich geduldeten Platz am Waldrand hat Weiß in guter Erinnerung. „Wir waren alle zusammen und wir Kinder konnten im Wald spielen, das war schön“, schildert er – und fügt hinzu: „Für uns Zigeuner.“ Denn der Stadt war der Platz ein Dorn im Auge.

    Doch ein Jahr später hat der seit zehn Jahren anhaltende Konflikt zwischen der Stadt und der Sippe Weiß über ihren Aufenthaltsort ein Ende.

    Die Sinti werden an die verrufene Sozialbausiedlung „Hamelwehr“ umgesiedelt.

    Und hier fängt zumindest für Reilo der Spaß erst richtig an. Er ist jung, 17, und am Hamelwehr ist immer was los. In der gleichermaßen großen wie starken Gemeinschaft der Sinti fühlt er sich pudelwohl.

    Er ist ein gut aussehender Junge. Die Mädchen himmeln ihn an. Es dauert nicht lange, da ist er mit einer Sintezza, einer Sinti-Frau, verheiratet und Vater von Zwillingsjungen. Er ist erst 18 Jahre alt. Weiß macht seinen Führerschein und fährt mit seiner Familie und den Schwiegereltern „auf Geschäft“: erst als Schrotthändler, später als Textilienverkäufer.

    Die Stationen der Familie Weiß in Hameln.
    Die Stationen der Familie Weiß in Hameln.
    Schließen
    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Reilo Weiß erzählt vom Platz an der Kläranlage.

    Video öffnen

    Zum Anfang

    Vollbild
    Reilo, das heißt „der Vornehme“. Vielleicht wäre damals „der Wilde“ treffender gewesen. Der kräftige Kerl geht keinem Streit aus dem Weg. Als er einmal als „dreckiger Zigeuner“ beleidigt wird, bricht er jemandem den Kiefer. Vor dem Jugendgericht setzt sich zwar der damals als „Zigeunerpastor“ bekannte Georg Althaus aus Braunschweig für ihn ein. Trotzdem muss Weiß für zwei Wochen in Arrest.

    Das Familienleben bleibt auf der Strecke. Der junge Weiß hat noch zu viel Spaß daran, sich in Kneipen die Nächte um die Ohren zu hauen. Immer öfter kommt es daheim zu Streitereien, immer öfter kommt er gar nicht nach Hause. Die Ehe geht in die Brüche. Und die andauernde Trinkerei wirkt sich zusehends auf seine Gesundheit aus. Bluthochdruck und Diabetes sind die Folge.

    Als sein Bluthochdruck einmal auf über 200 steigt, bekommt er Angst. Angst vor dem Tod. „Da bin ich ins Nachdenken gekommen: ,Was wird mit mir nach dem Tod?‘, fragte ich mich.“ Weiß ist 25 Jahre alt. Er nimmt zwar öfter an Zeltmissionsfahrten teil. Doch bis er, wie er sagt, zu Jesus Christus findet, werden noch elf Jahre vergehen. Mit einer Deutschen bekommt er derweil abermals zwei Söhne.

    Schließen
    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Reilo Weiß erzählt eine Anekdote aus der Zeit, als seine Familie am Rettigs Grund gelebt hat.

    Video öffnen

    Zum Anfang

    Das Werk von Reilo Weiß:  2011 erscheint das Neue Testament erstmals auf Romanes.
    Das Werk von Reilo Weiß: 2011 erscheint das Neue Testament erstmals auf Romanes.
    Vollbild
    Irgendwann Anfang der 80er Jahre drückt ihm die Missionarin Maria Dams eine Bibel in die Hand, sagt: „Prüfe, ob das alles so ist.“ Weiß fängt an zu lesen. „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“, zitiert er heute aus dem 1. Johannisbrief (1,9). „Dadurch habe ich erkannt, dass ich ein Sünder bin.“ Fortan geht er regelmäßig in die Sinti-Missionsgemeinde in Wehrbergen, bekehrt sich „zum Glauben an Jesus Christus“. Er hört auf zu trinken. „Bei den Christen habe ich gelernt, dass wir aufeinander zugehen müssen und man manchmal seinen Ärger runterschlucken muss.“

    Der Glaube wird zu seinem neuen Lebensinhalt, dem nahezu alles andere hintenanzustehen hat. Manchmal ist es schwierig, die Sinti-Kultur mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen, sagt er. Aber da wären wir wieder bei den Sitten und Bräuchen …

    1986. Bei der Lektüre des Markus-Evangeliums kommt Reilo Weiß eine Idee. Wie wäre es, die Bibel in seine Muttersprache, das Romanes, zu übersetzen, „damit auch mein Volk eine Bibel hat?“ Er, der nur ein halbes Jahr in der Schule war, übersetzt Vers für Vers, unterstützt von deutschen Glaubensbrüdern.

    Derweil, 1996, heiratet Weiß erneut, eine Sintezza aus Hildesheim.
    Das Werk von Reilo Weiß:  2011 erscheint das Neue Testament erstmals auf Romanes.
    Das Werk von Reilo Weiß: 2011 erscheint das Neue Testament erstmals auf Romanes.
    Schließen
    Zum Anfang

    Vollbild
    August 2016. Reilo Weiß steht vor dem Kiosk in Uslar – es gibt ihn immer noch –, bei dem er als Kind immer seine Comics gekauft hatte. Nach 50 Jahren ist es sein erster Besuch in seiner Geburtsstadt. Er betritt, regelrecht aufgekratzt, den Kiosk, spricht mit den trinkenden Gästen. Den Namen „Weiß“ kennt von ihnen keiner mehr. Und den Platz von Holzhändler Plessmann, wo sich die Barackensiedlung befand? „Da ist heute der Rewe“, sagt einer. Wieder draußen, sagt Weiß, sich mit beiden Händen vor die Brust fassend: „Also man muss schon sagen, da ist man richtig bewegt …“

    Durch die Altstadt geht es am ehemaligen Rathaus vorbei und an der Kneipe, heute ein Döner-Imbiss, in der sein Stiefvater sein Bier trank. Hinter den Rewe- und Aldi-Märkten kommen bei Weiß die Erinnerungen hoch: wie der Wind durch die Baracke seines Onkels pfiff, wie er mit seinem Cousin vom Dach aus die Spiele auf dem bis heute bestehenden angrenzenden Fußballplatz schaute …

    Im Eichholz findet Weiß sogar den hohlen Baum wieder. Die riesige Eiche, die ihm früher als Zufluchtsort diente, ist heute ein von Naturschützern gepflegter Unterschlupf für Eulen. „Wenn dieser Baum doch sprechen könnte …“, sagt Weiß ergriffen.
    Schließen
    Zum Anfang

    Am Knochenhauereck in Hameln könnte sich Weiß einen neuen Wohnwagen-Stellplatz vorstellen - mit Weser-Blick. Foto: Dana
    Am Knochenhauereck in Hameln könnte sich Weiß einen neuen Wohnwagen-Stellplatz vorstellen - mit Weser-Blick. Foto: Dana
    Vollbild
    Das Gefühl, von der Gesellschaft, von den Deutschen – obwohl doch selber deutsch – nicht anerkannt zu werden, das Gefühl, einem Volk anzugehören, das „als einziges bis heute verachtet“ werde, hat ihn bis heute nicht losgelassen. Manchmal, wenn er auf dem Amt abfällig behandelt wird, kommt die ganze Wut, die er in seiner Jugend empfand, die ganze Hilflosigkeit wieder hoch. „Ich muss mich dann sehr zusammenreißen und mich daran erinnern, dass ich doch Christ bin“, sagt er.

    Vielleicht ist der Glaube für Reilo Weiß auch ein haltstiftender Ersatz für die Sinti-Kultur, die ihm, zumindest gefühlt, zwischen den Fingern zu zerrinnen droht. Ihm fehlt die Gemeinschaft von früher, das „auf Geschäft fahren“. Und dass viele der jungen Sinti nicht mehr richtig Romanes sprächen, erfüllt ihn mit Sorge. Weiß fürchtet, dass die Sprache eines Tages ganz verloren geht, so wie viele Sitten und Bräuche immer mehr durch die deutsche Kultur verwässert würden. Bis zu einem gewissen Grad sei das ja auch gar nicht so schlecht, räumt er ein, denn manche Bräuche seien überholt. Welche das sind, sagt er nicht. „Aber“, meint Weiß wehmütig, „der Sinto ist nicht mehr das, was er mal war.“

    Manchmal fragt er einen der Jungen, ob er bereit wäre, seine Wohnung durch einen Wohnwagen zu ersetzen, um wie früher in der Gemeinschaft zu leben. „Aber die wollen das gar nicht“, sagt Weiß. Dabei hätte er sogar schon einen Stellplatz im Blick, er kommt da manchmal mit dem Fahrrad vorbei: die große Wiese am Knochenhauereck am Weserufer. „Das wäre schön.“ Dabei wäre er schon froh, wenn alle Sinti gemeinsam in einer Siedlung wohnen würden, so wie die Sinti-Familien in Hildesheim oder Hamburg, wo die Städte ihnen ganze Straßenzüge zur Verfügung stellten. Doch diese Option stand in Hameln nie zur Debatte.
    Am Knochenhauereck in Hameln könnte sich Weiß einen neuen Wohnwagen-Stellplatz vorstellen - mit Weser-Blick. Foto: Dana
    Am Knochenhauereck in Hameln könnte sich Weiß einen neuen Wohnwagen-Stellplatz vorstellen - mit Weser-Blick. Foto: Dana
    Schließen
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Kluft zwischen Sinti und Behörden

    Sandro Weiß fühlt sich diskriminiert

    Vollbild
    Sandro Weiß (39) ist stocksauer, ja, regelrecht gekränkt. Der Hamelner fühlt sich vom Jobcenter Hameln-Pyrmont diskriminiert. Weiß ist ein Sinto. Als solcher darf er manche Tätigkeiten nicht ausführen, da sie im Widerspruch zu bestimmten Reinheitsgeboten der Sinti stehen. Demnach seien ihm Arbeiten, die etwa mit Müll oder Krankenhäusern zu tun haben, verboten. Das sei im Austausch mit dem Jobcenter bislang auch nie ein Problem gewesen, sagt er. Folglich hatte Weiß die unpassenden Jobangebote, die ihn zuletzt dennoch erreicht hatten, abgelehnt, weil sie sowohl mit Müllentsorgung als auch mit Krankentransporten zu tun hatten.

    Doch der neue Sachbearbeiter habe Weiß auf dessen Erklärung für die Ablehnung der Angebote bloß entgegnet, ob er ihn „verarschen“ wolle. Weiß habe die Angebote anzunehmen, die er ihm vorlege. Daraufhin habe Weiß erklärt, dass er in diesem Ton nicht mit sich reden lasse und ihn diese Respektlosigkeit ihm und seiner Kultur gegenüber an das Dritte Reich erinnere. Er habe das Gespräch abgebrochen und sich an den Teamleiter gewandt. „Mit ihm konnte ich mich dann auch, wie gewohnt, unterhalten“, sagt Weiß.

    Auf Anfrage der Dewezet schildert das Jobcenter einen anderen Verlauf des Gesprächs zwischen Weiß und dem Sachbearbeiter. Demnach habe Weiß zwar „Gründe angeführt, warum für ihn bestimmte Tätigkeiten nicht zumutbar seien“. Doch der Sachbearbeiter habe Weiß dann gesagt, „dass es auch noch andere Arbeiten gäbe außer Berufskraftfahrer“ – wie von Weiß angestrebt und als Nebenverdienst im Übrigen bereits praktiziert. „Dies empfand Herr Weiß wohl als unangemessen und fragte, ob ,Arier‘ von ihm (dem Sachbearbeiter; Anm. d. Red.) genauso behandelt werden würden, er würde sich bei seinem Vorgesetzten beschweren“, sagt Gabriele Glüsen, Pressesprecherin des Jobcenters Hameln-Pyrmont. Der Sachbearbeiter habe dann „aufgrund der für ihn selbst verletzenden Aussage des Herrn Weiß diesen direkt an seinen Teamleiter verwiesen“.

    Allgemein würde das Jobcenter „in seiner Beratungs- und Vermittlungsarbeit u.a. Angehörige von Minderheiten, so auch der Sinti“, berücksichtigen, so Glüsen. „Eine Diskriminierung von Minderheiten ist dabei zu vermeiden.“ Mitarbeiter würden sogar „für eine kultursensible Beratungsarbeit qualifiziert“.

    Davon hat Sandro Weiß offenbar nichts gespürt. Die Schilderung des Jobcenters macht ihn nur noch wütender. Erstens sei sie unwahr und zweitens verdeutliche sie doch nur, „dass man immer gegen uns Sinti ist oder was gegen uns hat, weil wir Weiß heißen“, meint der 39-jährige Hamelner. Das nächste Gespräch mit dem Sachbearbeiter wolle er jedenfalls nur im Beisein eines Vertreters der „Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma“ führen.

    Schließen
    Zum Anfang
    Das Beispiel Sandro Weiß macht das das eklatante Missverhältnis deutlich, das offenkundig zwischen der Wahrnehmung von Sinti auf der einen und der Behörden auf der anderen Seite besteht. Zum einen ist es schwierig, Diskriminierung nachzuweisen. Zum anderen ist nicht per se anzunehmen, dass die Sachbearbeiter die Absicht haben, jemanden zu diskriminieren. Unstrittig ist aber das Empfinden vieler Sinti: das Gefühl, nicht anerkannt, diskriminiert oder abschätzig behandelt zu werden, ob im Alltag oder bei einer Institution.

    Zum Anfang
    Ein erhebliches Problem stellt für viele Hamelner Sinti die Wohnungssuche dar. In Gesprächen mit der Dewezet führen viele die Problematik auf Vorurteile zurück, die gegenüber Sinti im Allgemeinen und der Hamelner Familie Weiß im Besonderen bestünden. Das Problem ist auch beim Landkreis bekannt. „Viele Sinti haben es auf dem Wohnungsmarkt schwer“, sagt Michael Dittrich, der Leiter des Kreisamts für Inklusion und Bildung. „Dahinter stecken uralte Vorurteile gegenüber Sinti, wonach ,die Zigeuner‘ zum Beispiel heute kommen und morgen schon wieder gehen und die Wohnung entsprechend hinterlassen.“
    Zum Anfang
    Zum Anfang

    Vollbild
    Konkrete Beratungs- oder Hilfsangebote für Sinti gibt es bei der Stadt Hameln nicht. Aber es gibt Ansprechpartner für Probleme und Projekte, um den Sinti zu helfen.

    Am Kuckuck in Rohrsen gibt es seit 2015 das Projekt „Jugend stärken im Quartier“, das der Landkreis Hameln-Pyrmont gemeinsam mit der Impuls gGmbH, dem Jobcenter und anderen durchführt und sich auch an deutsche Sinti richtet. Es soll soziale Angebote vermitteln und jungen Menschen bei der Schul- und Berufsausbildung behilflich sein.


    Aber auch der „Migrationsrat“ könne ein Ansprechpartner sei. Auch wenn der Titel des Rats in Bezug auf deutsche Sinti irreführend ist, schließlich leben Sinti schon seit Jahrhunderten in Deutschland und sind weder Migranten noch haben sie einen Migrationshintergrund. Gleichwohl, so Nina Weißer vom Landkreis-Dezernat "Jugend/Bildung", befasse sich der Migrationsrat auch mit Diskriminierung.

    Suna Baris, seit Anfang 2017 Integrationsmanagerin bei der Stadt, könnte bei Problemen mit der Wohnungssuche helfen. „In solchen Fällen vermittele ich an Beratungsstellen oder suche den Kontakt zu Wohnungsgesellschaften und versuche dort, an die Ansprechpartner zu vermitteln“, sagt Baris.

    Schließlich gibt es auch noch die Niedersächsische Beratungsstelle für Sinti und Roma in Hannover.





    Schließen
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Horst Rosenberg berät Sinti

    Über echte und gefühlte Diskriminierung, Verallgemeinerungen und Alltagsprobleme

    Vollbild
    Wenn Hamelner Sinti ein Problem haben, dann können sie sich an Horst Rosenberg wenden. Der 57-Jährige ist von der „Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma“ in Hannover, zuständig für den Raum Hameln.   vermittelt zum Beispiel bei Schulproblemen oder hilft bei Behördenanträgen. Inzwischen aus gesundheitlichen Gründen zwar nur noch ehrenamtlich, aber ganz lassen kann Rosenberg es dann doch nicht. „Ich hatte schon immer Interesse, meinen Leuten zu helfen“, sagt der Hamelner während des Interviews mit unserer Zeitung in seinem Wohnzimmer. Um 1980 war er Mitbegründer der „Rom und Cinti Union“ in Hamburg. Vor etwa zehn Jahren war er an der Gründung der Beratungsstelle beteiligt und sitzt seitdem im Vorstand.
    Ein Gespräch über echte und gefühlte Diskriminierung, Verallgemeinerungen und Alltagsprobleme von Hamelner Sinti.

    Um was geht es Ihnen bei der Beratungsstelle?
    Horst Rosenberg: Es geht vor allem darum, die Jugend von der Straße zu holen, eine Beschäftigung für sie zu finden: Sportangebote, sie zur Musik zu bringen, herauszufinden, wo ihre Talente und Interessen liegen. Die Jugendarbeit liegt mir besonders am Herzen. Bei uns wollen zum Beispiel alle selbstständig sein, aber das wird heute immer schwieriger. Also versuchen wir, ihnen Wege in die Berufsausbildung aufzuzeigen.

    Woher kommt dieser Wunsch, selbstständig zu arbeiten?

    Das ist auf gewisse Weise anerzogen. Zum einen sind wir Sinti ja schon immer meist geschäftlich tätig gewesen. Zum anderen hängt das wohl auch damit zusammen, sich als Sinto nicht den ganzen Tag unter Nicht-Sinti aufzuhalten. Bei uns ist halt jeder gern sein eigener Chef. Ich selbst kenne es ja auch nicht anders. Allerdings war das früher einfacher, ob es nun um Schrott- oder Antiquitätenhandel ging. Aber das ist heute schwieriger. Diese Geschäfte haben keine Zukunft mehr. Deshalb ist es wichtig, dass die Jugend einen vernünftigen Schulabschluss und eine Ausbildung macht. Dann haben sie beruflich viel mehr Möglichkeiten. Selbstständig können sie sich dann ja immer noch machen.

    Die Beratungsstelle hilft auch bei Konflikten mit Institutionen. Was sind das für Konflikte?
    Manche haben Schwierigkeiten mit komplizierten Anträgen von Behörden. Sie verstehen sie nicht richtig, machen Fehler, sodass dem Antrag nie stattgegeben werden kann, weil immer irgendetwas fehlt. Am Ende bekommen sie dann kein Geld. Andere können nicht richtig lesen und schreiben. Also helfen wir den Leuten, diese Anträge richtig auszufüllen. Wir können natürlich keine Wunder vollbringen. Wer auf dem Amt seiner Meldepflicht nie nachkommt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn sein Geld gekürzt wird.

    Gehen manche Probleme auch von den Behörden aus?
    Sicherlich gibt es bei den Behörden auch einzelne Sachbearbeiter, die manchen die Anträge willkürlich erschweren, aber das ist wohl die Ausnahme. Das größte Problem besteht darin, dass die Menschen aneinander vorbeireden und sich zu wenig in den anderen hineinfühlen. Das gilt für beide Seiten. Ein Beispiel: Ein Sinto sagt nicht, dass er etwas nicht versteht. Aber sein Gegenüber ist ja kein Hellseher und an diesem Tag vielleicht auch gerade mal etwas genervt. Umgekehrt muss sich der Sachbearbeiter auch mal fragen, wie genervt wohl sein Gegenüber ist, das schon 14 Tage lang kein Geld mehr bekommen hat. So wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus.

    Wie können Sie dabei behilflich sein?

    Oft handelt es sich um Missverständnisse. Dann kommt ein Wort zum andern und es fallen auf beiden Seiten die falschen Worte. Meine Aufgabe ist es dann, zwischen den beiden Streitparteien zu vermitteln.

    Viele Hamelner Sinti klagen über große Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche. Bei dem Namen „Weiß“ würden viele Vermieter gleich abwinken.

    Das kriege ich leider oft mit, dass viele Vermieter bei dem Namen Weiß den Mieter gleich ablehnen. Aber nur, weil da vielleicht einmal jemand ständig bei offenem Fenster geheizt hat und deshalb eine hohe Nachzahlung fällig ist, die dann nicht gezahlt wurde, heißt das doch nicht, dass das alle machen.

    Da werden dann alle über einen Kamm geschoren.
    Richtig. Aber das geht doch nicht. In meiner Familie sind 19 Mitglieder durch das deutsche Volk ermordet worden. Sollen Sie jetzt daran Schuld sein? Natürlich nicht. Dasselbe gilt für die Heizkosten. Nur weil einer sie nicht gezahlt hat, heißt das nicht, dass die anderen sie auch nicht zahlen.

    Familie Weiß hat in Hameln keinen leichten Stand.

    Ja, aber in anderen Städten sind es andere Namen, da heißen sie dann Laubinger oder Winterstein … Es gibt aber auch ein positives Beispiel. In Eschwege, wo Sinti schon seit Jahrhunderten leben, sind sie, wie ich hörte, wunderbar integriert und sehr beliebt. Da ist das Gegenteil der Fall.

    Mit welchen Problemen wenden sich die Leute an Sie?
    Viele kommen zu mir, weil sie sich diskriminiert fühlen. Dabei zeigt sich dann oft, dass gar keine Diskriminierung vorliegt. Da war zum Beispiel mal ein Junge, der sich in der Schule gekloppt hat. Er durfte nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen und in der Pause nicht nach draußen. Ich habe dann sowohl mit der Familie des Jungen als auch mit der Rektorin gesprochen. Denn so ein Ausschluss darf nicht sein. Der Junge durfte dann wieder mitmachen, sollte aber in psychologische Behandlung. Das habe ich dann übernommen, und dann ging es auch wieder.

    Das heißt, der Junge war also gar nicht diskriminiert worden?

    Ich will damit sagen, wir empfinden manches als Diskriminierung, was nicht immer mit Diskriminierung zu tun hat. Damit will ich das nicht kleinreden. Diskriminierung gibt es noch reichlich. Aber nicht jedes Problem ist darauf zurückzuführen. Aufgrund unserer Geschichte sind wir diesbezüglich allerdings sehr empfindlich. Das muss man auch sehen.

    Es gibt aber auch Fälle, in denen es tatsächlich um Diskriminierung geht.

    Natürlich. Einmal kam eine Frau zu mir, die einen Mann anzeigen wollte. Sie war gerade auf Wohnungssuche, hatte einen Besichtigungstermin, ging in einer Siedlung von einem Hauseingang zum anderen, weil sie eine Hausnummer suchte. Da rief ein Mann aus einem Fenster, was sie hier sucht. Die Frau sagte, sie sucht eine Adresse. Da rief der Mann: „Wir kennen Euch Zigeuner: Dich hat Hitler vergessen zu vergasen!“ Das müssen Sie sich mal vorstellen …

    Konnten Sie der Frau helfen?

    Im Endeffekt haben wir von einer Anzeige abgesehen, weil die Frau nicht mehr sagen konnte, aus welchem Fenster des Hochhauses der Mann gerufen hatte. Aber solche Idioten gibt es doch überall und sind heute Gott sei Dank eher die Ausnahme.

    Was muss sich ändern?

    Der Sinto darf nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass er benachteiligt ist. Sonst gibt es kein Weiterkommen. Wenn die Diskriminierung aber offensichtlich ist, dann muss er sich auch dagegen wehren oder kann sich bei uns Hilfe holen.

    In Hildesheim gibt es das Django-Reinhardt-Festival, womit die Sinti einen großen Beitrag zur öffentlichen Kultur leisten. In Hameln treten die Sinti öffentlich so gut wie gar nicht in Erscheinung. Woran liegt das?
    Ich bin ja selbst nicht von hier, sondern erst in den 70er Jahren nach Hameln gezogen. Und da ist mir diese Zurückhaltung hier auch aufgefallen. Dabei gab es schon damals super Sinti-Musiker in Hameln, die aber nie gehört wurden, weil sie nie öffentlich, sondern nur für sich spielten. Dabei ist Musik, zum Beispiel von Django Reinhardt, wunderbar geeignet, um Menschen zusammenzubringen. Denn über die Musik als gemeinsame Basis kommen sie miteinander ins Gespräch und stellen fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben und gar nicht so unterschiedlich sind, wie sie immer dachten. Aber ja, in Hameln halten sich die Sinti in der Öffentlichkeit lieber zurück und geben nicht so viel von sich preis.

    Wobei sie mit unserer Zeitungs-Serie „Familie Weiß – Sinti in Hameln“ ja schon einen großen Schritt in die Öffentlichkeit wagen.

    Ja, das stimmt.

    Aber hängt diese grundsätzliche Zurückhaltung vielleicht noch mit der Nazizeit zusammen?

    Mit Sicherheit. Damals haben sogenannte Wissenschaftler über uns studiert und unsere Sitten und Bräuche dann gegen uns eingesetzt. Menschen wurden damit gequält, indem man sie zwang, bestimmte Arbeiten zu verrichten, die für uns tabu sind. Deshalb behalten viele Sinti ihre Kultur lieber für sich.

    Sogar heute kommt es noch vor, dass Gastwirte mit Pferdefleisch werben, um damit Sinti fernzuhalten, weil sie wissen, dass Pferdefleisch für Sinti tabu ist.

    Das gibt es leider überall immer mal wieder. Wobei das noch ein harmloses Beispiel ist. Denn wo ich nicht gerne gesehen bin, da gehe ich sowieso nicht hin.

    Interview: Philipp Killmann
    Schließen
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Zum Anfang

    Zum Anfang

    Unterwegs mit Schrotthändler Andreas Weiß

    „Alteiseeen, Schrrrott – Morgen!“, ruft Andreas „Traubli“ Weiß aus dem Fenster seines königsblauen Lasters, einem über 20 Jahre alten Diesel, Mercedes 208 D, während er in Schritttempo durch die Straßen fährt. Mit seiner Linken bimmelt der 36-Jährige mit einer ohrenbetäubenden Glocke, zwischendurch hupt er. Alle sollen mitbekommen, dass er da ist. Bei ihm können die Leute unkompliziert und kostenlos ihren Schrott entsorgen. Davon lebt er. Weiß ist Schrotthändler.
    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Zum Anfang
    Zum Schrotten kam er über seinen Vater. Auch er war Schrotthändler. Schon als kleiner Junge fuhr er bei ihm mit. Die Schule hat Weiß nur bis zur vierten Klasse besucht, obwohl er ein guter Schüler gewesen sei. Aber unter den Kindern fand er keinen Anschluss. Sie hätten ihn spüren lassen, dass er „anders“ sei, als „Zigeuner“ bezeichnet. Irgendwann hatte er die Nase voll und ging einfach nicht mehr hin. Stattdessen begleitete er nun seinen Vater beim Schrotten. „Er hat mir alles über Metalle beigebracht und über Schrott und mich den Kunden vorgestellt“, sagt er.
    Zum Anfang
    Zum Anfang
    Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters (2003) machte sich Weiß selbstständig. Aber das Geschäft sei heute härter als noch zu Lebzeiten seines Vaters, „auch durch den Euro“, sagt er. Der Metallpreis wird Tag für Tag an der Börse festgelegt. „Das kann heute ein Euro für ein Kilo Kabelschrott sein und morgen nur noch 90 Cent.“ Reich wird er damit nicht, aber es reiche, um über die Runden zu kommen.
    Zum Anfang
    Die Arbeit geht in die Knochen, das ganze Schleppen von Waschmaschinen und anderem sperrigen Gerät, das Hochhieven auf den Laster. Der 36-Jährige hat Rückenprobleme. „Mein Arzt sagt, ich soll mich schonen“, sagt Weiß. Aber wer bringt dann das Geld nach Hause? Doch so hart das Geschäft auch ist, es hat auch seine Vorzüge. „Ich bin mein eigener Chef“, sagt Weiß. „Ich bin gern unterwegs, an der Luft, und wenn dann noch die Sonne scheint …“, gerät er ins Schwärmen. „Und man trifft Leute, unterhält sich.“
    Zum Anfang
    Zum Anfang

    Auf Geschäft fahren ist lange Tradition

    Vollbild
    Wenn im Sommer Sinti mit Wohnwagen in Gruppen unterwegs sind, dann machen sie in der Regel keinen Urlaub, sondern „fahren auf Geschäft“, wie sie sagen, gehen also arbeiten. Oder aber sie sind etwa auf Missionsfahrt und verbinden die Pflege ihres Glaubens mit ihrer beruflichen Tätigkeit.

    Allerdings seien diese Fahrten in größeren Gruppen heute weniger geworden, wie der Hamelner Dachsanierer Wiesemann Rosenberg (50) sagt: „Früher sind meine Eltern mit uns in den Schulferien mit dem Wohnwagen losgefahren. Wir trafen uns mit anderen Sinti, legten eine Route fest und waren dann mit 15 oder 20 Wohnwagen unterwegs, sind nach Hamburg, Berlin oder Belgien gefahren, wo wir dann unseren Geschäften nachgegangen sind.“ Zwischendurch wurde Station gemacht, geangelt, Lagerfeuer gemacht und gegrillt. „Ich bin noch so groß geworden, mit dem Reisen“, sagt Rosenberg.

    Selbstständigkeit hat bei Sinti Tradition. Bis ins 20. Jahrhundert hinein übten Sinti „bevorzugt selbstständige Berufe aus, die oftmals als ambulanter Handel, also als Reisen zu Märkten oder als Tür-zu-Tür-Geschäft, betrieben wurden“, ist bei Karola Fings in „Sinti und Roma – Geschichte einer Minderheit“ (2016) nachzulesen. Früher waren Sinti vor allem als Hausierer und Dienstleister unterwegs, verdingten sich als Scherenschleifer oder Korbmacher, verkauften Kurzwaren oder unterhielten Fuhrbetriebe. Sie betrieben auch Handel: mit Stoffen, Pelzen, Möbeln, Musikinstrumenten oder Pferden.

    Andere verdienten ihren Lebensunterhalt als Künstler, vor allem als Musiker, „aber auch als Inhaber von Wandertheatern, als Artisten, Kinobesitzer oder Filmvorführer“, wie Fings schreibt. „Das ,Reisen‘ war ein Bestandteil der Existenzsicherung und wurde von einem festen Wohnsitz aus betrieben.“ Diese Mobilität wurde jedoch „nicht als Folge von zwangsweiser Vertreibung oder als ökonomische Notwendigkeit anerkannt, sondern als eine Strategie der Arbeitsverweigerung, wenn nicht gar des Diebstahls oder der Mittelerschleichung diffamiert“.

    Heute sind Sinti in den unterschiedlichsten Berufen tätig: ob als Schrotthändler, Kriminalkommissar oder im Vorstand einer Bank. Aus der Angst heraus, berufliche Nachteile zu erfahren, halten manche Sinti ihre Identität allerdings vorzugsweise geheim.

    Schließen
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Die Gräber der Sinti - "ein Ausdruck von Liebe"

    Auf manchen Friedhöfen gibt es Bereiche, die durch besonders prachtvolle Grabstätten auffallen. Häufig sind es Gräber von Sinti, die Eindruck schinden: edle Grabsteine aus Marmor mit reichen Verzierungen, ganze Gruften sind dort zu bestaunen. 
    Zum Anfang
    Eines der eindrucksvollsten Gräber auf dem Friedhof ist das von Ricardo "Kelly" Rosenberg. Im Alter von nur 32 Jahren starb Anfang 2017 der Sohn von Horst Rosenberg (57) an den Folgen eines Herzinfarkts. Ein Klavier ziert seine Gruft. Schließlich war Kelly Rosenberg ein begnadeter Klavierspieler, der seine Karriere als Sinti-Musiker erst noch vor sich hatte. Sein Vater war gerade dabei, ihn in die Musikszene einzuführen. 
    Zum Anfang
    Horst Rosenberg erklärt, weshalb die Grabstätte seines Sohnes, so wie viele andere Sinti-Gräber auch, so prächtig ausfallen. „Wir sind ja Christen“, sagt er vorweg. „Von daher liegt mein Sohn dort nicht wirklich, sondern ist im Himmel.“ Aber es ist eine Stelle, zu der er nun hingehen kann. „Es ist ein Ausdruck unseres menschlichen Denkens, ein Weg, seine Liebe zum Ausdruck zu bringen. Mein Sohn hätte doch auch noch zu Lebzeiten viel Geld von mir bekommen. Deshalb mache ich das von ganzem Herzen, und ich glaube, meinem Sohn hätte das auch gefallen.“ 
    Zum Anfang
    Auch die Trauerfeiern fallen bei den Sinti im Vergleich zu denen von Nicht-Sinti häufig außergewöhnlich groß aus. Als Sippensprecher Heinrich Weiß 1963 starb, kamen Hunderte Sinti aus ganz Deutschland, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Dewezet widmete ihm einen kleinen Artikel. „Der Verstorbene war Stammesältester einer weitverzweigten Zigeunerfamilie gewesen, sodass die Teilnehmer des nach mehreren Hunderten zählenden Trauergefolges weite Reisen nicht gescheut hatten“, hieß es am 6. September 1963 in dem Bericht. „Berge von Blumen und Kränzen zeugten für das Ansehen und die Beliebtheit des Verstorbenen im großen Kreise seiner Angehörigen und Freunde.“
    Zum Anfang
    Heinrich Weiß’ Wohnwagen am Rettigs Grund wurde nach der Beerdigung traditionsgemäß – und unter Aufsicht der Feuerwehr – verbrannt. Auch dies berichtete diese Zeitung damals kurz. Seinen Ursprung hat das Ritual des Verbrennens der Besitzgegenstände der Verstorbenen Forschern zufolge womöglich im indischen Hinduismus. 
    Zum Anfang
    Als Karl Weiß, ein Sohn von Heinrich Weiß, 1980 bestattet wurde, war dies der Dewezet sogar einen halbseitigen Artikel mit großem Foto wert. Über 500 Sippenangehörige aus ganz Deutschland waren zu der Trauerfeier des mit 53 Jahren verstorbenen Familienvaters erschienen. „Den Rahmen des für Hamelner Verhältnisse üblichen sprengte bei dieser Mammut-Beerdigung neben den Massen der Trauergäste auch der Aufwand, der an Blumenschmuck, -kränzen und -gestecken getrieben war“, hieß es damals in der Zeitung.
    Zum Anfang
    Die Gräber der Sinti haben bestimmte Bauweisen. „Manche Sinti setzen über den Sarg ein Konstrukt aus Eichenholz, das nach allen vier Seiten und nach oben hin zu ist und nur nach unten geöffnet, wie eine Haube über den eigentlichen Sarg, andere Sinti lassen die Gruft richtig ausmauern“, teilt Stadtsprecherin Janine Herrmann mit. „Hintergrund ist, dass nach dem Glauben der Sinti der Sarg nicht vom Erdboden umschlossen sein soll.“ Während diese Praxis in anderen Kommunen teilweise problematisch ist, gibt es in Hameln damit keine Probleme, wie es auf Anfrage aus dem Rathaus heißt. Beide Varianten seien auf den Friedhöfen der Stadt Hameln zulässig und würden schon immer so praktiziert. Zumindest sei auch den langjährigen Mitarbeitern nichts Anderweitiges bekannt.
    Zum Anfang
    Die oft außergewöhnliche Größe der Trauergesellschaften führt der Hamelner Sinto Reilo Weiß (69) auf die „letzte Ehrerweisung“ zurück. „Jeder, der den Verstorbenen kannte, möchte dabei sein“, sagt er. Meistens wird außerdem Musik gespielt – live. Gitarren, Geigen oder etwa Akkordeon sind die Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen. „Sinti-Musik“, wie Weiß sagt. „Aus Tradition werden für den Toten noch ein paar gefühlvolle Lieder gespielt.“ So wichtig, wie vielen Sinti im Leben die Gemeinschaft ist, so wichtig ist sie ihnen auch im Tod. „Wir haben es gerne so, dass wir auch auf dem Friedhof alle zusammen sind“, sagt Weiß über die Begräbnisstätte, in der schon viele seiner Familienmitglieder ihre letzte Ruhe gefunden haben.
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Sinti-Musik: Die Unbekannten

    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Wenn Sascha, Traubli, Albany und Angelo Weiß in einem Nebenraum der Sumpfblume proben, dann werden die Besucher des Cafés hellhörig. Die Musik, die bei jedem Türöffnen in das Café dringt, ist für viele Gäste nicht nur ungewohnt. Sie ist auch gut. Ungewöhnlich auch, dass diese Klänge nur bruchstückhaft aus einem Hinterzimmer kommen, anstatt von einer Bühne, wo sie hingehörten, wie mancher Musikfreund findet, der mit den Musikern ins Gespräch kommt. Doch die Hamelner Sinti-Jazz-Musiker sind in ihrer Heimatstadt weitestgehend unbekannt. Dabei gibt es in Hameln schon so lange Sinti-Musik, wie es Sinti in der Rattenfängerstadt gibt. 

    Video öffnen

    Zum Anfang
    Da wäre zunächst Heinrich „Waescheskro“ Weiß (1887-1967) zu nennen. Weiß kam 1962 mit seiner Familie und weiteren Angehörigen aus Uslar nach Hameln. Er war ein begnadeter Geiger. Dabei war seine linke Hand durch eine im Ersten Weltkrieg erlittene Schussverletzung verkrüppelt. Doch das hinderte ihn nicht am Spielen. Sein Sinn für die Musik färbte auf seine vier Söhne ab: auf August Weiß (1911-1989) und Gustav Weiß (1925-2016), die beide ebenfalls vor allem Geige spielten, sowie auf Eduard Weiß (1912-2001), der sich auf das Akkordeon spezialisierte. Sie alle beherrschten mehrere Instrumente
    Zum Anfang
    Vor allem August Weiß ist vielen noch heute in Hameln lebenden Sinti als fantastischer Geiger in Erinnerung geblieben. Aber wahrscheinlich werden sich auch noch einige andere Hamelner an August Weiß erinnern, der zudem für seine gute Kleidung und sein elegantes Auftreten bekannt war. Sogar zum Angeln an der Weser soll er mit Schlips und Kragen gegangen sein. Der hochgewachsene Mann, der mit seiner Familie 1957 nach Hameln kam, spielte die Geige vorzugsweise in einem kleinen Zimmer unterm Dach in der Hummenstraße 2 – und begeisterte die Passanten unten auf der Straße. Ihr Applaus war sein Lohn. In jüngeren Jahren soll er in seiner Heimatstadt Hamburg noch in einem Orchester gespielt haben. 
    Zum Anfang
    Ein paar der Söhne von Heinrich Weiß gaben ihr Können an die Jüngeren weiter, so wie Eduard Weiß, der sich seiner Neffen und Großneffen annahm. Sascha Weiß war einer dieser Neffen. „Mein Großonkel konnte genauso gut angeln, wie Musik machen“, erzählt der 48-Jährige. Ständig seien sie zusammen angeln gewesen und hätten Musik gemacht, egal wo. In der Hummenstraße mehr oder weniger aufgewachsen, unternimmt Sascha Weiß – zum Leidwesen seiner Großmutter, wie er sagt – früh erste musikalische Gehversuche am Klavier seines Großvaters August, um schließlich die Gitarre für sich zu entdecken. Sein Onkel Eduard nimmt ihn unter seine Fittiche. „Das Lernen bei ihm war eine harte Schule“, sagt Weiß. Lobende Worte? Fehlanzeige. „Er hat immer nur gesagt, was noch besser werden muss“, erzählt Weiß. Heute bildet Lead-Gitarrist Sascha Weiß gemeinsam mit seinen Cousins eine Band: mit Rhythmusgitarrist Albany Weiß (34), Bassist Angelo Weiß (48), der ein Verwandter der bekannten Hamburger Combo Django Deluxe ist, und Traubli Weiß (36) am Klavier.
    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Albany Weiß hat sich das Gitarrespielen weitgehend selbst beigebracht, obwohl er nie Notenlesen gelernt hatte. Sein Bruder Traubli Weiß hingegen nahm mit 15 Musikunterricht. Für beide ist die Musik ein wichtiger Teil in ihrem Leben.

    Video öffnen

    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Der Gitarrist Kussi Weiß (40) aus Hildesheim ist ein Cousin von den Hamelner Sinti-Musikern. Kussi hat sich mit seinem Ensemble bereits einen Namen gemacht. Vor gut zwei Jahren sorgte er auch in der Sumpfblume für ein volles Haus. 

    Video öffnen

    Zum Anfang
    Ein weiterer Hamelner Sinti-Musiker ist Horst „Hase“ Rosenberg. Für den 57-jährigen Klavierspieler ist die Musik sein Leben. „Die Musik bedeutet mir alles“, sagt Rosenberg. Sein musikalisches Talent trat zutage, als er als Kind auf flötenartigen Zuckerstangen zu spielen begann. Dann kam die Orgel, dann das Akkordeon und irgendwann das geliebte Klavier. Dafür baute er später sogar jeden seiner Wohnwagen um, damit das Klavier immer mitkonnte, wenn er seinem Marktgeschäft nachging. Die Musik hat er immer nur nebenberuflich betrieben. Berühmt zu werden, darum sei es ihm nie gegangen. 
    Zum Anfang
    Ein ebenfalls begnadeter Musiker war Kelly Rosenberg (32).  Auf dem Rückweg von einem Auftritt in Berlin erlitt der Sohn von Horst Rosenberg plötzlich einen Herzinfarkt. Und starb. Kelly Rosenberg war wie sein Vater ein passionierter Klavierspieler. 
    Zum Anfang
    Schließen
    „Er spielte engelsgleich“, ist im Internet zu lesen. „Das trifft auch zu“, sagt sein Vater. Sie haben viel zusammen gespielt, waren sich sehr nahe, wie Rosenberg sagt. Er sei gerade dabei gewesen, seinen Sohn in die Musikwelt einzuführen, ihn mit der Szene bekanntzumachen. In Berlin spielten sie mit Nantemann Rosenberg, dem Bruder der wohl bekanntesten deutschen Sintezza, Marianne Rosenberg. 
    Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

    Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

    Zum Anfang
    Horst Rosenberg zufolge gibt es drei musikalische Stilrichtungen bei den Sinti: Sinti-Jazz, ungarische Folklore (Csárdás) und alte Volksweisen. Rosenberg spielt alles, aber auch Franz Lehár oder Operetten. Zuletzt spielte er auch viel Django Reinhardt, gemeinsam mit dem Gitarristen Ottchen Segar aus Rinteln.
    Zum Anfang
    Django Reinhardt (1910-53), der berühmte Sinti-Jazz-Gitarrist, hat viele Sinti-Musiker stark beeinflusst, so auch die Hamelner. Bis heute interpretieren viele seine Musik immer wieder aufs Neue. Reinhardt war Manouche, also französischsprachiger Sinto, und gilt als Wegbereiter des europäischen Jazz. Nachdem seine linke Hand bei einem Unfall nachhaltig verletzt wurde, machte er aus der Not eine Tugend. Er entwickelte einen eigenwilligen Stil und vermischte französische Walzer und Sinti-Musik mit Jazz. Sinti-Jazz oder Gypsy-Swing war geboren. 
    Zum Anfang
    0:00
    /
    0:00
    Video jetzt starten
    Horst Rosenberg hat sein Können nicht nur an seine Söhne weitergegeben. Er brachte es auch seinen Neffen bei, Wiesemann Rosenberg am Akkordeon, Reilo Rosenberg am Klavier. Gemeinsam sind die beiden in der SFB-Dokumentation „Lustig wär‘ das Zigeunerleben“ aus dem Jahr 1980 zu sehen, zu der sie die Filmmusik beisteuerten. Damals beide gerade erst um die 13 Jahre alt, spielten sie auf Festivals und bei anderen Gelegenheiten. 

    Video öffnen

    Zum Anfang
    In Hameln sind weder Wiesemann (rechts außen) und Reilo (unten links) noch ihr Onkel Horst Rosenberg jemals öffentlich aufgetreten. „Das hat sich irgendwie nie ergeben“, sagt Horst Rosenberg. „Aber mich hat auch niemand gefragt.“ Das gilt auch für die meisten anderen Hamelner Sinti-Musiker. Aber das kann sich ja noch ändern.

    Zum Anfang
    Am Freitag, 17. November, um 20 Uhr steht mit Kussi Weiss jedenfalls schon mal die Verwandtschaft auf der Bühne der Sumpfblume: das Kussi-Weiss-Quartett mit Tschabo Franzen (Gitarre), Hugo Richter (Akkordeon/Piano) und Dietmar Osterburg (Kontrabass). Karten gibt es im Dewezet-Tickt-Shop und den bekannten Vorverkaufsstellen für 10 Euro, Abendkasse 12 Euro. 
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang

    Ein Verein für die Hamelner Sinti

    Viele Hamelner Sinti fühlen sich bis heute von der Mehrheitsgesellschaft nicht anerkannt. Viele fühlen sich sogar diskriminiert, auf Behörden und vor allem auf dem privaten Wohnungsmarkt benachteiligt, nur, weil sie Sinti sind oder „Weiß“ heißen. Umstände, die eigentlich nach einer Interessenvertretung vor Ort schreien. Die gibt es so aber nicht. Doch das war nicht immer so...
    Zum Anfang
    1983 taten sich Hamelner Sinti zusammen und gründeten den Verein „Hamelner Sinti“. Aus dem andauernden Gefühl heraus, als deutsche Sinti nicht anerkannt und benachteiligt zu werden, erwuchs damals die Idee für die Gründung eines Vereins, der für sie einsteht und eintritt. „In diesem Zusammenhang wurden insbesondere die Umgangsweisen mancher Sachbearbeiter von Ämtern des Landkreises und der städtischen Behörden kritisiert“, schrieb die Dewezet am 13. September 1983 über die Vereinsgründung. Für diese hatten sich 30 Angehörige Hamelner Sinti-Familien im „Freundschaftshaus“ in Bückeburg versammelt. 
    Zum Anfang
    Die Gründung des Vereins „Hamelner Sinti“ im Jahr 1983 fiel schließlich in eine Zeit, in der sich viele Sinti bundesweit tatsächlich zu organisieren begannen und öffentlich für ihre Rechte eintraten. Besonders nachhaltig tat dies die Bürgerrechtsbewegung um Romani Rose. Rose gründete 1982 den „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ mit, dem er seitdem auch vorsitzt. Er und andere Sinti waren 1980 an der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau in einen Hungerstreik getreten.
    Zum Anfang
    Vorstandsmitglied von dem Verein war Hugo Steinbach. „Wir haben den Verein gegründet, um unser Recht zu kriegen!“, sagt der heute 86-Jährige energisch. Sogar unter Sinti von außerhalb, habe man sich damals erzählt, dass die Behörden in Hameln „Haare auf den Zähnen“ hätten“, sagt er. 
    Zum Anfang
    Franz Laubinger, heute 53, wurde damals zum Vorsitzenden gewählt. „Dabei war ich erst 18 Jahre alt“, erzählt er. „Ich war noch so jung, ich wusste gar nicht richtig, was los war, aber ich verstand, dass es wichtig war.“ Er sollte den Vorsitz übernehmen, weil er als einer der wenigen Hamelner Sinti habe lesen und schreiben können. 
    Zum Anfang
    Der Analphabetismus vieler Sinti sei ein Grund gewesen, der zu vielen Konflikten mit den Behörden geführt habe. Zudem seien viele auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. „Dann bekamen sie Post vom Amt, aber konnten sie nicht lesen oder richtig verstehen“, erklärt Laubinger. Infolgedessen seien Bescheinigungen oder Anträge nicht rechtzeitig eingereicht oder Termine nicht eingehalten – und die Sozialhilfe am Ende gekürzt worden. Andere Anträge, zum Beispiel für die Mietübernahme, seien vom Sozialamt abgelehnt worden, „obwohl sie die nötige Bescheinigung vorweisen konnten“, schildert Laubinger. „Da ist viel schiefgelaufen.“ 
    Zum Anfang
    Mit der Gründung des Vereins habe sich dies schlagartig geändert. „Dann lief es“, sagt der in der Gemeinde Emmerthal lebende Laubinger. „Da merkte man dann wohl auch auf dem Amt: "Die ,Zigeuner’ wissen sich ja doch zu wehren!‘“
    Zum Anfang
    Neben der Interessenvertretung gegenüber den Behörden organisierte der Verein Hilfe zur Selbsthilfe, wie sich Rudolf Freiwald (70), ebenfalls damaliges Vorstandsmitglied, erinnert. „Es gab Deutschhilfe für die Sinti“, sagt er. „Sinti, die schon lesen und schreiben konnten, brachten es Sinti-Kindern bei.“ Seminare seien veranstaltet worden, es habe eine Beratungsstelle zur Sozialhilfe gegeben und auch über Wiedergutmachungsanträge sei aufgeklärt worden. Schließlich waren die älteren Sinti noch von dem NS-Regime verfolgt worden.
    Zum Anfang
    Selbsterklärtes Ziel des Vereins war es laut Satzung, „die Bedingungen zur Erhaltung der kulturellen Identität der Sinti in Hameln zu schaffen sowie insbesondere Hilfestellung in rechtlichen und sozialen Fragen zu geben“. Ein Teil dieses Ziel wurde offenbar relativ schnell erreicht. „Weil es mit dem Amt dann ja lief, wurde der Verein bald schon wieder aufgelöst“, sagt Rudolf Laubinger.
    Zum Anfang
    In den Augen Laubingers bedeute die Auflösung des Vereins allerdings nicht, dass ein Verein in Hameln nicht auch in der Gegenwart sinnvoll für die hiesigen Sinti wäre. „Auf jeden Fall wäre ein Verein auch heute noch nötig“, befindet der 53-Jährige. Zwar sei die Situation der Sinti heute etwas anders als damals, inzwischen könnten viele Sinti lesen und schreiben. Aber eben nicht alle. Und gerade die Älteren hätten bis heute Probleme mit dem Amt, etwa wenn es um ihre Altersversorgung, Rente oder Pflege gehe. 
    Zum Anfang
    Seit es den Verein Hamelner Sinti nicht mehr gibt, müssen sie sich für diese Angelegenheiten an die „Niedersächsische Beratungsstelle für Sinti und Roma“ in Hannover wenden. Die wird in Hameln von Franz Laubingers Bruder Horst Rosenberg vertreten. Auch er würde eine Vereinsgründung Hamelner Sinti begrüßen, möglicherweise im Verbund mit der Beratungsstelle.
    Zum Anfang
    Reilo Weiß (69), dessen inzwischen verstorbene erste Frau Hilde Weiß damals ebenfalls im Vorstand der Hamelner Interessenvertretung der Sinti saß, würde eine Neugründung eines Vereins ebenfalls befürworten. Das Verhalten, das einige Sachbearbeiter an den Tag legten, wenn sie merkten, dass manche Sinti, wie Weiß sagt, „keine Ahnung“ hätten, sei oft sehr „abwertend“. Mit einem Verein, der für alle da ist, könnte dagegen vorgegangen werden. Außerdem böte ein Verein die Möglichkeit, die eigene Kultur zu pflegen und die Gemeinschaft der Hamelner Sinti wieder zu stärken. 
    Zum Anfang
    Auch der Hamelner Oberbürgermeister Claudio Griese würde sich einen Ansprechpartner bei den Sinti wünschen, um künftig mehr aufeinander zugehen zu können. „Sowohl kommunikativ als auch integrativ besteht bislang eine Schwierigkeit darin, dass die Sinti in Hameln nicht in Form eines Verbandes vertreten sind“, so Griese. Dies könnte sich in absehbarer Zeit ändern, wenn die Überlegungen von Reilo Weiß, Horst Rosenberg und Franz Laubinger, einen Verein zu gründen, fruchten sollten. 
    Zum Anfang
    Für die Hamelner Sinti hat die Dewezet-Serie „Familie Weiß – Sinti in Hameln“ einen großen Schritt in die Öffentlichkeit bedeutet, in der sie – als Sinti erkennbar – sonst kaum in Erscheinung treten. Für all die Einblicke und die Offenheit, die uns Familie Weiß für die Serie gewährt hat, bedankt sich die Dewezet.
    Zum Anfang
    Per Klick auf das Bild kommen Sie zur Seite mit den bisher erschienenen Teilen der Serie.
    Zum Anfang
    Scrollen, um weiterzulesen Wischen, um weiterzulesen
    Wischen, um Text einzublenden