Familie Weiß - Sinti in Hameln
Sinti in HamelnDie unerzählte Geschichte der Familie Weiß
Zur Geschichte der Sinti
Sinti in Hameln Die Geschichte der Sinti in Kürze
Sinti in Hameln Die Geschichte der Sinti in Kürze
Woher die Sinti stammen und wie sie nach Deutschland kamen
Der erste Vermerk über die Anwesenheit von Roma, genannt „Tataren“, in Deutschland befindet sich in den „Hildesheimer Stadtrechnungen“ aus dem Jahr 1407. Für viele Sinti gilt dieses Datum als Ausgangspunkt ihrer jahrhundertelangen Geschichte in Deutschland, der ihnen auch zur Identifikation mit ihrem Heimatland dient. Im 15. Jahrhundert wurden Sinti zu „Vogelfreien“, also Rechtlosen, erklärt. Dadurch waren sie abermals gezwungen, öfter ihren Aufenthaltsort zu wechseln.
Mit Verbesserung ihrer Rechtslage wurden Sinti bis Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend sesshaft. Doch die Vorurteile, der Antiziganismus, bestand fort. Er gipfelte in dem Völkermord der Nazis, dem rund 500 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen. Heute leben etwa zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa, davon etwa 80 000 bis 120 000, überwiegend deutsche Sinti, in Deutschland. In Hameln wohnen schätzungsweise 150 deutsche Sinti.
Sinti in Hameln Porajmos, der Völkermord – oder die „Hitler-Zeit“
Sinti in Hameln Porajmos, der Völkermord – oder die „Hitler-Zeit“
Den meisten Hamelner Sinti ist „Porajmos“ indes kein Begriff. Sie sprechen von der „Hitler-Zeit“, in der sie selbst oder ihre Angehörigen zu Opfern der Nazis wurden. Zunächst wurden die deutschen Sinti und Roma von dem NS-Regime als „Fremdrasse“ stigmatisiert.
Es folgten ihre bürokratische Erfassung, Berufsverbote sowie „Zigeunerlager“ genannte Zwangslager, wie etwa der bereits 1936 eingerichtete „Zigeunerrastplatz Marzahn“ in Berlin. Die gutachterlichen Stellungnahmen von Rassehygienikern wie Eva Justin waren für die meisten Sinti „gleichbedeutend mit einem Todesurteil“, wie die Ethnologin Katrin Reemstma schreibt („Sinti und Roma“; 1996).
1938 wurde die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ gebildet. Im selben Jahr wurden viele Sinti im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in weitere KZ verschleppt. Im Mai 1940 wurden auf Anordnung Heinrich Himmlers etwa 2800 Sinti aus Hamburg – darunter auch Hugo Steinbach, Bluma Weiß sowie andere spätere Hamelner –, und aus anderen Teilen Nord- sowie Westdeutschlands in das polnische Konzentrationslager Belzec und von dort in andere Lager verschleppt. Dort mussten sie schwere Zwangsarbeit verrichten, waren unterversorgt und Gewaltexzessen der SS ausgeliefert.
Gemeinsam mit den Juden standen Sinti und Roma in der Häftlingshierarchie der SS an unterster Stelle, wie die Historikerin Karola Fings schreibt („Sinti und Roma“; 2016). „Zynischerweise wurden viele der Musiker, denen in Freiheit die Arbeit verboten worden war, in den Lagern in die Häftlingsorchester gezwungen, um bei Appellen und beim Ein- und Ausmarsch der Gefangenen aufzuspielen“, so Fings. Männer, Frauen und Kinder waren „folterähnlichen, medizinischen Menschenversuchen“ ausgesetzt. Viele wurden zwangssterilisiert.
Die genaue Anzahl der ermordeten Sinti und Roma lässt sich nicht beziffern. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 500 000 als „Zigeuner“ verfolgte Menschen den Nazi-Verbrechen in Europa zum Opfer gefallen sind, davon etwa 20 000 aus Deutschland.
1956 verwehrte der Bundesgerichtshof den Sinti eine Entschädigung weitgehend – mit der Begründung, die Verfolgung sei wegen ihrer „Neigung zu Kriminalität“ bis 1943 rechtens gewesen.
Erst 1982 wurde der Völkermord an den Sinti von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt.
Sinti in Hameln Die Lage nach 1945
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Stereotype und Abweisung bestehen fort
Sinti in Hameln "Zigeuner" wollen sie nicht genannt werden
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Ein Jahr später folgt ein Ultimatum: Im Sommer '63 erklärt der britische Major Lambert, dass die Sinti unter keinen Umständen länger im Rettigs Grund bleiben können, weil das Gelände für eigene Zwecke benötigt werde.
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Sinti in HamelnEinmal quer durch die Stadt
Aus dem Zeitungsarchiv
Familie Weiß in der Presse
8. Juni 1955
Wohin mit dem "fahrenden Volk"?
2. Juli 1955
"Zigeunerlager vergrößert sich"
12. Juli 1955
"Fahrendes Volk am Stadtrand"
8. März 1957
"Gleiches Recht für alle"
25. Mai 1957
",Auch wir sind Hamelner Bürger'"
18. April 1958
"Zigeuner zogen in den Rettigs Grund"
6. September 1963
"Zigeuner-Beerdigung"
16. Dezember 1964
"Nur noch die Trümmer sieht man hier ,rauchen'..."
25. Februar 1966
"'Erschütterndes zu sehen bekommen'"
11. November 1980
Da wurde der Hahn einfach abgedreht
10. August 1985
"Zigeuner-Camp ist unzulässig"
20. September 2010
Ärger um sanierungsbedürftige Wohnung
Leser erinnern sich
Sinti in HamelnLeser erinnern sich
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Sinti in HamelnGespräche auf dem Weg
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Von Vorurteilen und Feindbildern
Sinti in HamelnEine Geschichte voller Vorurteile
Sinti in HamelnVom Einzelfall zur Sippenhaft
Sinti in Hameln Mit Feindbildern Gemeinschaftsgefühl stärken
Sinti in Hameln Mit Feindbildern Gemeinschaftsgefühl stärken
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Sinti in HamelnAuch heute noch Vorurteile
Sinti in HamelnGanz anders als gedacht
Erinnerungen an die Nazi-Zeit
Sinti in HamelnErinnerungen an die Nazi-Zeit
Sinti in Hameln "Meine Geschwister sind erschossen worden"
Sinti in Hameln "Meine Geschwister sind erschossen worden"
Bluma Weiß im Interview
Frau Weiß, Sie sind ursprünglich aus Hamburg, richtig?
Bluma Weiß: Ja. Wir haben in Hamburg-Harburg gewohnt, im Wohnwagen auf einem großen Platz. Meine Eltern, meine zwei Brüder, meine Schwester und ich. Wir Sinti waren da eine große Gruppe.
Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Hamburg?
Ja, an die Schulzeit. Den Namen vergesse ich nicht: Heinemann hieß der. Ein Lehrer. Der hat uns verprügelt nach allen Regeln der Kunst.
War das eine Schulklasse mit Deutschen zusammen?
Nein. Das war eine Klasse extra für uns Sinti. Wir waren alle in einer Klasse, Kleine und Große.
Aber der Lehrer war ein Deutscher?
Der Heinemann, ja. Der hat mich mal mit so einem Rohrstock geschlagen, das war ein richtiger Knüppel. Und da habe ich was am Auge abgekriegt, knallrot und dick war das. Als meine Mutter das sah, ist sie zu ihm gegangen. Der wäre fast aus dem Fenster gesprungen. (lacht) Sie hat ihm gesagt: „So schlagen Sie mein Kind nicht noch einmal!“ Bei einem anderen wäre sie vielleicht gleich weggekommen. Danach sind wir ja auch weggekommen.
Und das ganz plötzlich?
Ja. Das war 1940, auf diesem großen Platz. Da standen überall Wachtposten mit Gewehren, damit keiner abhaut, rings um den ganzen Platz hast du nur Köpfe gesehen. „Raus, raus, raus, alles raus!“, riefen die.
Raus aus Ihren Wohnwagen?
Ja, alle mussten raus. Und da sind wir denn mit dem, was wir anhatten raus, und alles andere blieb stehen.
Wie haben Ihre Eltern oder die anderen Erwachsenen reagiert?
Na ja. Die waren ängstlich ... Die wussten vor lauter Panik überhaupt nicht mehr, was sie machen sollten. Dann sind wir in die Waggons gekommen und dann ab nach Polen … Nee, ist nicht so einfach alles gewesen, aber jetzt ist es vorbei. Aber wenn Sie nicht aufpassen, glauben Sie mir, dann kommt wieder was. Da sind so viele heute, wo du hundertprozentig weißt, das sind sie. Und das wird nicht mehr so lange dauern. Vielleicht erlebe ich es nicht mehr, aber die Kinder.
Wie ging es damals weiter?
Wir sind in so ein Sammellager gekommen. Da sind alle auseinandergerissen und auf Lager verteilt worden. Wir waren in Starachowice, Warschau, Krychow, Bergen-Belsen, Siedlce … Zuerst waren wir in Belzec.
Was haben Sie in den Lagern erlebt?
Ich war so zehn Jahre alt, als ich in so ein Sägewerk kam. Da war auch ein Onkel von mir, der hat ein bisschen auf uns aufgepasst. Wir mussten ja mit diesen langen Brettern und Balken arbeiten. Ich habe mit einem Judenjungen zusammengearbeitet. Zu viert haben wir Kinder diese kleinen Waggons schieben müssen. Und in Polen war es ja sehr kalt, und wir hatten ja nix an den Füßen, und dann auf den Gleisen… Das war so furchtbar. Und wenn du nicht so gekonnt hast, na ja, dann gab’s was. Manche sind gleich nach Auschwitz gekommen. Da sind ja meist die Kinder gleich weggewesen. Die sind eingesammelt worden – und ab in’ Ofen. Bei uns waren die Kinder noch, aber die sind vor Hunger und Durst gestorben. Meine Geschwister sind erschossen worden. Die waren schon größer.
Was ist mit Ihren Geschwistern passiert?
Na ja, meine Geschwister… die waren schon… (Stimme bricht) Drei sind erschossen worden, zwei auf einmal, Berta und Emil. Mein ältester Bruder, Julius, war so 19. Der war im Krankenhaus, also haben sie gesagt. Typhus hatte er. Na, jedenfalls, den haben sie dann auch erschossen. Das war in Siedlce.
Haben Sie das alles gesehen?
Nein. Aber wir haben alles mitgekriegt in dem kleinen Ghetto, wo wir waren, in Siedlce. (Atmet schwer) Da haben wir auf so einer Mauer gestanden, und die haben da so gelegen. Die Mutter, die eine – das vergess‘ ich mein Leben nicht –, die hat ihre zwei Kinder so umschlungen gehabt. Und alle drei wurden erschossen. Da mussten noch welche zusehen. Je mehr sie gequält haben, desto besser war es für die.
Mit „die“ meinen Sie die SS-Leute?
Ja. Na, jedenfalls als Kind ist das schon schwer gewesen, aber für die Eltern war es noch schwerer. Wie meine Mutter gehört hat, dass die Kinder gestorben sind, also erschossen … (atmet tief ein) Die hat nur da gesessen und ihren Kopf gegen die Wand geschlagen. Sie wollte nicht mehr leben. Aber wir waren ja auch noch da. Ich und meine Stiefschwester, die war noch klein. Sie ist inzwischen auch gestorben.
Haben Ihre Eltern die KZs überlebt?
Meine Mutter ja. Mein Vater nicht. Der ist mit Emil und Berta erschossen worden. Alle drei. Aber da waren noch mehr. Da war meine Tante mit sieben Kindern, die alle erschossen worden sind, die ganze Familie. Von meinem Vater die Schwester mit einem, die sind auch weg, in eins so erschossen worden. Ich war ja noch sehr jung, das haben die Älteren auch viel vor uns versteckt gehalten, dass wir das nicht so mitkriegen. Es ist eine Zeit gewesen, an die man gar nicht mehr erinnert werden will, denn da kommt das alles wieder so richtig hoch. Und obwohl wir deutsche Zigeuner sind, muss ich ehrlich sagen: Ich hab sie gehasst.
Wen haben Sie gehasst?
(leise) Die Deutschen.
Verständlich.
Für mich jetzt nicht mehr. Aber wir kannten den Herrn Jesus ja auch noch nicht. Gegen Kinder oder alte Leute, wo man gemerkt hat, dass sie gut waren, waren wir ja auch nicht. Aber wir haben es ja immer wieder erlebt. Und es gibt ja auch heute noch einige, bei denen man das merkt, dass die so für Rassenverfolgung sind. Ich merk das sofort. Aber wie ich dann Christin (freikirchliche; Anm. d. Red.) wurde – ich war vorher streng katholisch –, musste ich zu jedem hingehen und mit denen sprechen, was ich vorher überhaupt nicht machen wollte. Ist das nicht sonderbar? Wenn man einen Menschen erst hasst und auf einmal so lieben kann? Jesus hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.
Haben Sie mit Ihren Kindern über die Zeit in den Lagern gesprochen?
Wir haben mal von gesprochen, aber die Kinder, die kennen das gar nicht so. Die wissen vieles. Aber von mir… Ich hätte da gar nicht groß reden können, weil, wenn man die Geschwister… Und man stellt sich das so vor. Nee. Da kannst du ja nicht reden, also ich jedenfalls nicht. Und deshalb kann ich auch vor meinen Kindern nicht sprechen. Nicht mal von meinen Eltern.
Schließlich wurden Sie befreit.
Ja, aber wie genau, kann ich gar nicht mehr sagen. Das Lager war irgendwie voll, und die konnten nicht mehr alle „abmähen“ sozusagen. Die sind dann reingekommen, und wir sind irgendwie stiften gegangen und (lacht) wieder nach Deutschland hin. Erst waren wir in den Wäldern in Polen. Weil die haben ja sogar noch die Letzten, die da geflohen sind, verfolgt. Wenn die den Nazis in die Hände fielen, dann wurden sie erschossen, abgeschlachtet praktisch. Gleichzeitig waren wir in Polen selbst plötzlich „Nazis“ – weil wir ja die deutsche Staatsangehörigkeit haben, Juden und Zigeuner. (lacht) Ich war nur noch Haut und Knochen. Das sieht man ja heute manchmal im Fernsehen. Genau so war das. Deshalb seh ich mir das nicht mehr an. Da hast du alles wieder vor dir. Alles.
Wohin sind Sie geflüchtet?
Wir sind dann mit dem August Weiß (Stiefvater. Die Eltern hatten sich früh getrennt; Anm. d. Red.) nach Nordhausen, der hatte da Verwandtschaft. Die Nazis hatten zwar am Anfang die Leute eingesammelt. Aber in Nordhausen waren noch welche, weil die erst in einem zweiten Schub wegsollten, weil der erste voll war. Die wurden zwar noch verfolgt, aber kamen nicht mehr ins Lager. Da kamen dann die Amerikaner. In Nordhausen habe ich auch meinen Mann kennengelernt, Theodor. 16 Jahre und drei Monate war ich, wie ich geheiratet habe. Über meinen Schwiegervater, Heinrich Weiß, sind wir dann nach Hameln gekommen.
Danke für das Gespräch.
Interview: Philipp Killmann
Sinti in Hameln "Ich wurde gestraft fürs Leben"
Sinti in Hameln "Ich wurde gestraft fürs Leben"
Hugo Steinbach (86) erinnert sich:
Einer wollte was trinken, nur einen kleinen Schluck. Der wurde abgeschossen! Es gab nur Suppe, die war wie Wasser. Wenn ein Hund oder eine Katze von einem Auto totgefahren wurde – dann kam die rin in‘ Topp!
Meine Mutter ist dort gestorben. Mein Vater hat uns alle zusammengehalten.
Ich war nie wieder in der Schule. Ich wurde gestraft fürs Leben. Habe nie mehr Lesen und Schreiben gelernt.
Dann sind wir geflüchtet. Die Deutschen wollten uns abschießen. Wir standen schon in einer Reihe auf dem Acker. Da kamen die Russen und haben uns befreit.
Nach der Nazi-Zeit blieb die Angst uns noch lange in den Knochen. Wenn wir Uniformen gesehen haben, dann haben wir uns immer weggeduckt. Wir müssen aber auch vergeben, sonst wären wir ja keine Christen.“
Dokumentenquelle: Namenliste umgesiedelter Zigeuner aus Hamburg (Kopie), 1.2.1.1/ 11197819/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen
Sinti in Hameln "Mein Stiefvater hat die Deutschen gehasst"
Sinti in Hameln "Mein Stiefvater hat die Deutschen gehasst"
Reilo Weiß (69) erinnert sich:
Er hat die Deutschen gehasst. Wenn er später was getrunken hatte, wurde er aggressiv. Nicht uns gegenüber, das nie, aber Deutschen gegenüber. Wenn dann einer sagte ,Du Zigeuner!‘, dann war das alles wieder da.
Eine kleine Entschädigung hat er wohl bekommen. Aber wie will man das Leben der eigenen Kinder entschädigen?
Seitdem herrschen viele gegenseitige Vorurteile. Mein Stiefvater war nicht gut auf die Deutschen zu sprechen. Das färbte auf uns Kinder ab.
Aber heute sind wir Christen. Wir versuchen, die Deutschen lieb zu haben, deshalb möchte ich Vorurteile abbauen.“
Sinti in Hameln "Meine Oma hatte noch die KZ-Nummer tätowiert"
Sinti in Hameln "Meine Oma hatte noch die KZ-Nummer tätowiert"
Wiesemann Rosenberg (50) erinnert sich:
Meine Oma hatte noch die KZ-Nummer tätowiert. Sie war in Auschwitz und Bergen-Belsen. Mein Opa hat mit uns über diese Zeit gesprochen und viel erzählt. Er sagte uns, wir müssen uns an die Gesellschaft anpassen, weil wir eine andere Hautfarbe und eine andere Sprache haben. Deshalb müssen wir zur Schule gehen, eine Lehre machen und uns integrieren, damit so was nicht wieder passiert.
Die Deutschen heute können nichts dafür. Aber es ist eine Vergangenheit, die wehtut. Ich habe meine eigenen Vorfahren nicht kennenlernen können. Sie fehlen jetzt. Das bedeutet Traurigkeit und Schmerz.
Was damals passiert ist, hat auch mich geprägt. Vor allem, vorsichtig zu sein und mich an die Gesetze zu halten. So habe ich es auch an die Jüngeren aus unserer Familie weitergegeben. Denn das war eine schlimme Sache, das darf nicht noch mal passieren.
Aber ich habe immer viele deutsche Freunde gehabt und komme schon immer gut mit ihnen aus. Und warum ist das so? Weil ich so lebe, wie es mein Opa mir gesagt hat! Klar, andere kennen mich nicht und hauen mir die Tür vor der Nase zu. Aber eine deutsche Familie aus Hamburg wollte mich sogar mal adoptieren, weil ich ihrem verstorbenen Sohn so ähnlich sah, und sie mich so mochten. Das ging natürlich nicht, schließlich habe ich meine eigenen Leute. Aber ich besuche sie immer noch.“
Sinti in Hameln "Mutter musste die Hitler-Fahne raushängen"
Sinti in Hameln "Mutter musste die Hitler-Fahne raushängen"
Rudolf Freiwald (70) erinnert sich:
Dann suchte ein Bauer eine Magd, und meine Mutter hatte sich nichts bei gedacht, wollte nur weg vom Heim. Dann war sie bis 21 bei dem Bauern in Heidelbeck (im Kalletal; Anm. d. Red.), bis mein Opa sie dort abgeholt hat. Sie musste dort sehr schwer arbeiten: Kuh- und Schweineställe ausmisten, die Kühe melken, sämtliche Arbeiten verrichten und am 20. April Hitler seine Fahne raushängen.
Dann kamen die Amerikaner und wollten was zu essen. Meine Mutter hat ihnen gesagt, wo sie alles finden. Da hat der Bauer mit ihr geschimpft. Doch die Amerikaner haben den Bauern an die Wand gestellt und gesagt, wenn er nicht sofort aufhört, dann erschießen sie ihn. Die Amerikaner haben dann in seinem Bett geschlafen.“ (lacht)
Sinti in Hameln "Ich krieg manchmal immer noch Wut!"
Sinti in Hameln "Ich krieg manchmal immer noch Wut!"
Ramona Weiß (59) erinnert sich:
Meine Mutter, Sophie Weiß, ist mit fünf oder sechs Jahren ins Konzentrationslager gekommen. Sie selbst konnte nicht lesen und schreiben. Aber bei uns Kindern hat sie später sehr darauf geachtet, dass wir es lernen.
Meine Oma hat immer gesagt, wir sollen die Leute jetzt nicht hassen. Die haben nichts damit zu tun, was früher gemacht wurde. Aber ich krieg manchmal immer noch Wut! Wenn ich im Fernsehen sehe, was früher mit uns angestellt wurde.“
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August Weiß stirbt 1989, seine Frau Luise 1986. Die Hummenstraße 2 bleibt bis in die 90er Jahre ein Zuhause ihrer Nachkommen.
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Verstöße gegen die Vorschriften werden geahndet. Dafür wird im Zweifel ein Rechtsprecher zurate gezogen. Bestraft wird mit Ausschluss unterschiedlicher Intensität aus der Gemeinschaft.
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(Reilo Weiß (4. v. li.) mit seiner Familie vor ihrem Wohnwagen in Uslar. Foto: Reilo Weiß/pr)
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Sinti in HamelnVon Uslar nach Hameln
Die wechselhafte Geschichte von Reilo Weiß
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Sinti in Hameln Kindheit in Uslar
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An manchen Tagen betrinkt sich sein Stiefvater Robert Rose, wird aggressiv. Nicht seiner Familie gegenüber, das nie. Aber wenn ein Deutscher ihn dann provoziert, fackelt er nicht lange. Rose hatte im Konzentrationslager Auschwitz mit ansehen müssen, wie seine Kinder getötet wurden. Reilo Weiß‘ Mutter war in ihrer Heimatstadt Nordhausen im Arbeitslager. Rose ist auf die Deutschen, wie Weiß sagt, „nicht gut zu sprechen“. Das färbt auf die Kinder ab.
In Uslar verbringt Reilo als Junge viel Zeit allein. Andere Sinti in seinem Alter gibt es nicht. Die deutschen Kinder lehnen ihn ab, einmal verprügeln sie ihn sogar. „Aber ich bin stolzer Sinto“, sagt Weiß, mit einem Lächeln zwar, aber – stolz. Er schnitzt sich einen Speer und verteidigt sich. Verschafft sich Respekt. Mit Gewalt. Wenn‘s sein muss auch gegen den „Rotfuchs“, ein Polizist, der es auf ihn abgesehen hat. Manchmal sitzt Reilo stundenlang in einem riesigen hohlen Baum im Eichholz, einem nahegelegenen Waldstück. Hier fühlt er sich geborgen.
Sinti in Hameln "Auf Reise" und im Ferienlager
Sinti in Hameln "Auf Reise" und im Ferienlager
Über die für ihre Missionsarbeit unter Sinti und Roma bekannte Gertrud Wehl († 2015) aus Hamburg kommt Reilo als Jugendlicher öfter in ein Ferienlager in Norwegen. Dort hat er eine unbeschwerte Zeit, schwimmt im Fjord und lernt sogar etwas Norwegisch.
Sinti in Hameln Umzug nach Hameln
Sinti in Hameln Umzug nach Hameln
Doch ein Jahr später hat der seit zehn Jahren anhaltende Konflikt zwischen der Stadt und der Sippe Weiß über ihren Aufenthaltsort ein Ende.
Die Sinti werden an die verrufene Sozialbausiedlung „Hamelwehr“ umgesiedelt.
Und hier fängt zumindest für Reilo der Spaß erst richtig an. Er ist jung, 17, und am Hamelwehr ist immer was los. In der gleichermaßen großen wie starken Gemeinschaft der Sinti fühlt er sich pudelwohl.
Er ist ein gut aussehender Junge. Die Mädchen himmeln ihn an. Es dauert nicht lange, da ist er mit einer Sintezza, einer Sinti-Frau, verheiratet und Vater von Zwillingsjungen. Er ist erst 18 Jahre alt. Weiß macht seinen Führerschein und fährt mit seiner Familie und den Schwiegereltern „auf Geschäft“: erst als Schrotthändler, später als Textilienverkäufer.
Sinti in Hameln"Das war unmenschlich"
Sinti in Hameln Alkohol und Schlägereien
Sinti in Hameln Alkohol und Schlägereien
Das Familienleben bleibt auf der Strecke. Der junge Weiß hat noch zu viel Spaß daran, sich in Kneipen die Nächte um die Ohren zu hauen. Immer öfter kommt es daheim zu Streitereien, immer öfter kommt er gar nicht nach Hause. Die Ehe geht in die Brüche. Und die andauernde Trinkerei wirkt sich zusehends auf seine Gesundheit aus. Bluthochdruck und Diabetes sind die Folge.
Als sein Bluthochdruck einmal auf über 200 steigt, bekommt er Angst. Angst vor dem Tod. „Da bin ich ins Nachdenken gekommen: ,Was wird mit mir nach dem Tod?‘, fragte ich mich.“ Weiß ist 25 Jahre alt. Er nimmt zwar öfter an Zeltmissionsfahrten teil. Doch bis er, wie er sagt, zu Jesus Christus findet, werden noch elf Jahre vergehen. Mit einer Deutschen bekommt er derweil abermals zwei Söhne.
Sinti in HamelnEngländer auf Irrwegen
Sinti in Hameln Der Weg zum Glauben
Sinti in Hameln Der Weg zum Glauben
Der Glaube wird zu seinem neuen Lebensinhalt, dem nahezu alles andere hintenanzustehen hat. Manchmal ist es schwierig, die Sinti-Kultur mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen, sagt er. Aber da wären wir wieder bei den Sitten und Bräuchen …
1986. Bei der Lektüre des Markus-Evangeliums kommt Reilo Weiß eine Idee. Wie wäre es, die Bibel in seine Muttersprache, das Romanes, zu übersetzen, „damit auch mein Volk eine Bibel hat?“ Er, der nur ein halbes Jahr in der Schule war, übersetzt Vers für Vers, unterstützt von deutschen Glaubensbrüdern.
Derweil, 1996, heiratet Weiß erneut, eine Sintezza aus Hildesheim.
Sinti in Hameln Zurück in Uslar
Sinti in Hameln Zurück in Uslar
Durch die Altstadt geht es am ehemaligen Rathaus vorbei und an der Kneipe, heute ein Döner-Imbiss, in der sein Stiefvater sein Bier trank. Hinter den Rewe- und Aldi-Märkten kommen bei Weiß die Erinnerungen hoch: wie der Wind durch die Baracke seines Onkels pfiff, wie er mit seinem Cousin vom Dach aus die Spiele auf dem bis heute bestehenden angrenzenden Fußballplatz schaute …
Im Eichholz findet Weiß sogar den hohlen Baum wieder. Die riesige Eiche, die ihm früher als Zufluchtsort diente, ist heute ein von Naturschützern gepflegter Unterschlupf für Eulen. „Wenn dieser Baum doch sprechen könnte …“, sagt Weiß ergriffen.
Sinti in Hameln Leben als Sinto - früher und heute
Sinti in Hameln Leben als Sinto - früher und heute
Vielleicht ist der Glaube für Reilo Weiß auch ein haltstiftender Ersatz für die Sinti-Kultur, die ihm, zumindest gefühlt, zwischen den Fingern zu zerrinnen droht. Ihm fehlt die Gemeinschaft von früher, das „auf Geschäft fahren“. Und dass viele der jungen Sinti nicht mehr richtig Romanes sprächen, erfüllt ihn mit Sorge. Weiß fürchtet, dass die Sprache eines Tages ganz verloren geht, so wie viele Sitten und Bräuche immer mehr durch die deutsche Kultur verwässert würden. Bis zu einem gewissen Grad sei das ja auch gar nicht so schlecht, räumt er ein, denn manche Bräuche seien überholt. Welche das sind, sagt er nicht. „Aber“, meint Weiß wehmütig, „der Sinto ist nicht mehr das, was er mal war.“
Manchmal fragt er einen der Jungen, ob er bereit wäre, seine Wohnung durch einen Wohnwagen zu ersetzen, um wie früher in der Gemeinschaft zu leben. „Aber die wollen das gar nicht“, sagt Weiß. Dabei hätte er sogar schon einen Stellplatz im Blick, er kommt da manchmal mit dem Fahrrad vorbei: die große Wiese am Knochenhauereck am Weserufer. „Das wäre schön.“ Dabei wäre er schon froh, wenn alle Sinti gemeinsam in einer Siedlung wohnen würden, so wie die Sinti-Familien in Hildesheim oder Hamburg, wo die Städte ihnen ganze Straßenzüge zur Verfügung stellten. Doch diese Option stand in Hameln nie zur Debatte.
Kluft zwischen Sinti und Behörden
Sinti in Hameln Unverstanden vom Amt?
Sinti in Hameln Unverstanden vom Amt?
Sandro Weiß fühlt sich diskriminiert
Doch der neue Sachbearbeiter habe Weiß auf dessen Erklärung für die Ablehnung der Angebote bloß entgegnet, ob er ihn „verarschen“ wolle. Weiß habe die Angebote anzunehmen, die er ihm vorlege. Daraufhin habe Weiß erklärt, dass er in diesem Ton nicht mit sich reden lasse und ihn diese Respektlosigkeit ihm und seiner Kultur gegenüber an das Dritte Reich erinnere. Er habe das Gespräch abgebrochen und sich an den Teamleiter gewandt. „Mit ihm konnte ich mich dann auch, wie gewohnt, unterhalten“, sagt Weiß.
Auf Anfrage der Dewezet schildert das Jobcenter einen anderen Verlauf des Gesprächs zwischen Weiß und dem Sachbearbeiter. Demnach habe Weiß zwar „Gründe angeführt, warum für ihn bestimmte Tätigkeiten nicht zumutbar seien“. Doch der Sachbearbeiter habe Weiß dann gesagt, „dass es auch noch andere Arbeiten gäbe außer Berufskraftfahrer“ – wie von Weiß angestrebt und als Nebenverdienst im Übrigen bereits praktiziert. „Dies empfand Herr Weiß wohl als unangemessen und fragte, ob ,Arier‘ von ihm (dem Sachbearbeiter; Anm. d. Red.) genauso behandelt werden würden, er würde sich bei seinem Vorgesetzten beschweren“, sagt Gabriele Glüsen, Pressesprecherin des Jobcenters Hameln-Pyrmont. Der Sachbearbeiter habe dann „aufgrund der für ihn selbst verletzenden Aussage des Herrn Weiß diesen direkt an seinen Teamleiter verwiesen“.
Allgemein würde das Jobcenter „in seiner Beratungs- und Vermittlungsarbeit u.a. Angehörige von Minderheiten, so auch der Sinti“, berücksichtigen, so Glüsen. „Eine Diskriminierung von Minderheiten ist dabei zu vermeiden.“ Mitarbeiter würden sogar „für eine kultursensible Beratungsarbeit qualifiziert“.
Davon hat Sandro Weiß offenbar nichts gespürt. Die Schilderung des Jobcenters macht ihn nur noch wütender. Erstens sei sie unwahr und zweitens verdeutliche sie doch nur, „dass man immer gegen uns Sinti ist oder was gegen uns hat, weil wir Weiß heißen“, meint der 39-jährige Hamelner. Das nächste Gespräch mit dem Sachbearbeiter wolle er jedenfalls nur im Beisein eines Vertreters der „Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma“ führen.
Sinti in HamelnEine Frage der Wahrnehmung
Sinti in HamelnHauptproblem: Wohnungssuche
Sinti in HamelnEine Wohnung für 10 Personen?
Sinti in Hameln Hier gibt es Hilfe
Sinti in Hameln Hier gibt es Hilfe
Am Kuckuck in Rohrsen gibt es seit 2015 das Projekt „Jugend stärken im Quartier“, das der Landkreis Hameln-Pyrmont gemeinsam mit der Impuls gGmbH, dem Jobcenter und anderen durchführt und sich auch an deutsche Sinti richtet. Es soll soziale Angebote vermitteln und jungen Menschen bei der Schul- und Berufsausbildung behilflich sein.
Aber auch der „Migrationsrat“ könne ein Ansprechpartner sei. Auch wenn der Titel des Rats in Bezug auf deutsche Sinti irreführend ist, schließlich leben Sinti schon seit Jahrhunderten in Deutschland und sind weder Migranten noch haben sie einen Migrationshintergrund. Gleichwohl, so Nina Weißer vom Landkreis-Dezernat "Jugend/Bildung", befasse sich der Migrationsrat auch mit Diskriminierung.
Suna Baris, seit Anfang 2017 Integrationsmanagerin bei der Stadt, könnte bei Problemen mit der Wohnungssuche helfen. „In solchen Fällen vermittele ich an Beratungsstellen oder suche den Kontakt zu Wohnungsgesellschaften und versuche dort, an die Ansprechpartner zu vermitteln“, sagt Baris.
Schließlich gibt es auch noch die Niedersächsische Beratungsstelle für Sinti und Roma in Hannover.
Horst Rosenberg berät Sinti
Sinti in Hameln Horst Rosenberg berät bei Problemen im Alltag
Sinti in Hameln Horst Rosenberg berät bei Problemen im Alltag
Über echte und gefühlte Diskriminierung, Verallgemeinerungen und Alltagsprobleme
Ein Gespräch über echte und gefühlte Diskriminierung, Verallgemeinerungen und Alltagsprobleme von Hamelner Sinti.
Um was geht es Ihnen bei der Beratungsstelle?
Horst Rosenberg: Es geht vor allem darum, die Jugend von der Straße zu holen, eine Beschäftigung für sie zu finden: Sportangebote, sie zur Musik zu bringen, herauszufinden, wo ihre Talente und Interessen liegen. Die Jugendarbeit liegt mir besonders am Herzen. Bei uns wollen zum Beispiel alle selbstständig sein, aber das wird heute immer schwieriger. Also versuchen wir, ihnen Wege in die Berufsausbildung aufzuzeigen.
Woher kommt dieser Wunsch, selbstständig zu arbeiten?
Das ist auf gewisse Weise anerzogen. Zum einen sind wir Sinti ja schon immer meist geschäftlich tätig gewesen. Zum anderen hängt das wohl auch damit zusammen, sich als Sinto nicht den ganzen Tag unter Nicht-Sinti aufzuhalten. Bei uns ist halt jeder gern sein eigener Chef. Ich selbst kenne es ja auch nicht anders. Allerdings war das früher einfacher, ob es nun um Schrott- oder Antiquitätenhandel ging. Aber das ist heute schwieriger. Diese Geschäfte haben keine Zukunft mehr. Deshalb ist es wichtig, dass die Jugend einen vernünftigen Schulabschluss und eine Ausbildung macht. Dann haben sie beruflich viel mehr Möglichkeiten. Selbstständig können sie sich dann ja immer noch machen.
Die Beratungsstelle hilft auch bei Konflikten mit Institutionen. Was sind das für Konflikte?
Manche haben Schwierigkeiten mit komplizierten Anträgen von Behörden. Sie verstehen sie nicht richtig, machen Fehler, sodass dem Antrag nie stattgegeben werden kann, weil immer irgendetwas fehlt. Am Ende bekommen sie dann kein Geld. Andere können nicht richtig lesen und schreiben. Also helfen wir den Leuten, diese Anträge richtig auszufüllen. Wir können natürlich keine Wunder vollbringen. Wer auf dem Amt seiner Meldepflicht nie nachkommt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn sein Geld gekürzt wird.
Gehen manche Probleme auch von den Behörden aus?
Sicherlich gibt es bei den Behörden auch einzelne Sachbearbeiter, die manchen die Anträge willkürlich erschweren, aber das ist wohl die Ausnahme. Das größte Problem besteht darin, dass die Menschen aneinander vorbeireden und sich zu wenig in den anderen hineinfühlen. Das gilt für beide Seiten. Ein Beispiel: Ein Sinto sagt nicht, dass er etwas nicht versteht. Aber sein Gegenüber ist ja kein Hellseher und an diesem Tag vielleicht auch gerade mal etwas genervt. Umgekehrt muss sich der Sachbearbeiter auch mal fragen, wie genervt wohl sein Gegenüber ist, das schon 14 Tage lang kein Geld mehr bekommen hat. So wie es in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus.
Wie können Sie dabei behilflich sein?
Oft handelt es sich um Missverständnisse. Dann kommt ein Wort zum andern und es fallen auf beiden Seiten die falschen Worte. Meine Aufgabe ist es dann, zwischen den beiden Streitparteien zu vermitteln.
Viele Hamelner Sinti klagen über große Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche. Bei dem Namen „Weiß“ würden viele Vermieter gleich abwinken.
Das kriege ich leider oft mit, dass viele Vermieter bei dem Namen Weiß den Mieter gleich ablehnen. Aber nur, weil da vielleicht einmal jemand ständig bei offenem Fenster geheizt hat und deshalb eine hohe Nachzahlung fällig ist, die dann nicht gezahlt wurde, heißt das doch nicht, dass das alle machen.
Da werden dann alle über einen Kamm geschoren.
Richtig. Aber das geht doch nicht. In meiner Familie sind 19 Mitglieder durch das deutsche Volk ermordet worden. Sollen Sie jetzt daran Schuld sein? Natürlich nicht. Dasselbe gilt für die Heizkosten. Nur weil einer sie nicht gezahlt hat, heißt das nicht, dass die anderen sie auch nicht zahlen.
Familie Weiß hat in Hameln keinen leichten Stand.
Ja, aber in anderen Städten sind es andere Namen, da heißen sie dann Laubinger oder Winterstein … Es gibt aber auch ein positives Beispiel. In Eschwege, wo Sinti schon seit Jahrhunderten leben, sind sie, wie ich hörte, wunderbar integriert und sehr beliebt. Da ist das Gegenteil der Fall.
Mit welchen Problemen wenden sich die Leute an Sie?
Viele kommen zu mir, weil sie sich diskriminiert fühlen. Dabei zeigt sich dann oft, dass gar keine Diskriminierung vorliegt. Da war zum Beispiel mal ein Junge, der sich in der Schule gekloppt hat. Er durfte nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen und in der Pause nicht nach draußen. Ich habe dann sowohl mit der Familie des Jungen als auch mit der Rektorin gesprochen. Denn so ein Ausschluss darf nicht sein. Der Junge durfte dann wieder mitmachen, sollte aber in psychologische Behandlung. Das habe ich dann übernommen, und dann ging es auch wieder.
Das heißt, der Junge war also gar nicht diskriminiert worden?
Ich will damit sagen, wir empfinden manches als Diskriminierung, was nicht immer mit Diskriminierung zu tun hat. Damit will ich das nicht kleinreden. Diskriminierung gibt es noch reichlich. Aber nicht jedes Problem ist darauf zurückzuführen. Aufgrund unserer Geschichte sind wir diesbezüglich allerdings sehr empfindlich. Das muss man auch sehen.
Es gibt aber auch Fälle, in denen es tatsächlich um Diskriminierung geht.
Natürlich. Einmal kam eine Frau zu mir, die einen Mann anzeigen wollte. Sie war gerade auf Wohnungssuche, hatte einen Besichtigungstermin, ging in einer Siedlung von einem Hauseingang zum anderen, weil sie eine Hausnummer suchte. Da rief ein Mann aus einem Fenster, was sie hier sucht. Die Frau sagte, sie sucht eine Adresse. Da rief der Mann: „Wir kennen Euch Zigeuner: Dich hat Hitler vergessen zu vergasen!“ Das müssen Sie sich mal vorstellen …
Konnten Sie der Frau helfen?
Im Endeffekt haben wir von einer Anzeige abgesehen, weil die Frau nicht mehr sagen konnte, aus welchem Fenster des Hochhauses der Mann gerufen hatte. Aber solche Idioten gibt es doch überall und sind heute Gott sei Dank eher die Ausnahme.
Was muss sich ändern?
Der Sinto darf nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass er benachteiligt ist. Sonst gibt es kein Weiterkommen. Wenn die Diskriminierung aber offensichtlich ist, dann muss er sich auch dagegen wehren oder kann sich bei uns Hilfe holen.
In Hildesheim gibt es das Django-Reinhardt-Festival, womit die Sinti einen großen Beitrag zur öffentlichen Kultur leisten. In Hameln treten die Sinti öffentlich so gut wie gar nicht in Erscheinung. Woran liegt das?
Ich bin ja selbst nicht von hier, sondern erst in den 70er Jahren nach Hameln gezogen. Und da ist mir diese Zurückhaltung hier auch aufgefallen. Dabei gab es schon damals super Sinti-Musiker in Hameln, die aber nie gehört wurden, weil sie nie öffentlich, sondern nur für sich spielten. Dabei ist Musik, zum Beispiel von Django Reinhardt, wunderbar geeignet, um Menschen zusammenzubringen. Denn über die Musik als gemeinsame Basis kommen sie miteinander ins Gespräch und stellen fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben und gar nicht so unterschiedlich sind, wie sie immer dachten. Aber ja, in Hameln halten sich die Sinti in der Öffentlichkeit lieber zurück und geben nicht so viel von sich preis.
Wobei sie mit unserer Zeitungs-Serie „Familie Weiß – Sinti in Hameln“ ja schon einen großen Schritt in die Öffentlichkeit wagen.
Ja, das stimmt.
Aber hängt diese grundsätzliche Zurückhaltung vielleicht noch mit der Nazizeit zusammen?
Mit Sicherheit. Damals haben sogenannte Wissenschaftler über uns studiert und unsere Sitten und Bräuche dann gegen uns eingesetzt. Menschen wurden damit gequält, indem man sie zwang, bestimmte Arbeiten zu verrichten, die für uns tabu sind. Deshalb behalten viele Sinti ihre Kultur lieber für sich.
Sogar heute kommt es noch vor, dass Gastwirte mit Pferdefleisch werben, um damit Sinti fernzuhalten, weil sie wissen, dass Pferdefleisch für Sinti tabu ist.
Das gibt es leider überall immer mal wieder. Wobei das noch ein harmloses Beispiel ist. Denn wo ich nicht gerne gesehen bin, da gehe ich sowieso nicht hin.
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Allerdings seien diese Fahrten in größeren Gruppen heute weniger geworden, wie der Hamelner Dachsanierer Wiesemann Rosenberg (50) sagt: „Früher sind meine Eltern mit uns in den Schulferien mit dem Wohnwagen losgefahren. Wir trafen uns mit anderen Sinti, legten eine Route fest und waren dann mit 15 oder 20 Wohnwagen unterwegs, sind nach Hamburg, Berlin oder Belgien gefahren, wo wir dann unseren Geschäften nachgegangen sind.“ Zwischendurch wurde Station gemacht, geangelt, Lagerfeuer gemacht und gegrillt. „Ich bin noch so groß geworden, mit dem Reisen“, sagt Rosenberg.
Selbstständigkeit hat bei Sinti Tradition. Bis ins 20. Jahrhundert hinein übten Sinti „bevorzugt selbstständige Berufe aus, die oftmals als ambulanter Handel, also als Reisen zu Märkten oder als Tür-zu-Tür-Geschäft, betrieben wurden“, ist bei Karola Fings in „Sinti und Roma – Geschichte einer Minderheit“ (2016) nachzulesen. Früher waren Sinti vor allem als Hausierer und Dienstleister unterwegs, verdingten sich als Scherenschleifer oder Korbmacher, verkauften Kurzwaren oder unterhielten Fuhrbetriebe. Sie betrieben auch Handel: mit Stoffen, Pelzen, Möbeln, Musikinstrumenten oder Pferden.
Andere verdienten ihren Lebensunterhalt als Künstler, vor allem als Musiker, „aber auch als Inhaber von Wandertheatern, als Artisten, Kinobesitzer oder Filmvorführer“, wie Fings schreibt. „Das ,Reisen‘ war ein Bestandteil der Existenzsicherung und wurde von einem festen Wohnsitz aus betrieben.“ Diese Mobilität wurde jedoch „nicht als Folge von zwangsweiser Vertreibung oder als ökonomische Notwendigkeit anerkannt, sondern als eine Strategie der Arbeitsverweigerung, wenn nicht gar des Diebstahls oder der Mittelerschleichung diffamiert“.
Heute sind Sinti in den unterschiedlichsten Berufen tätig: ob als Schrotthändler, Kriminalkommissar oder im Vorstand einer Bank. Aus der Angst heraus, berufliche Nachteile zu erfahren, halten manche Sinti ihre Identität allerdings vorzugsweise geheim.